Ist der Wahlausgang in Chile der Beginn eines Rechtsrucks in Lateinamerika?

In Chile hat die politische Rechte jetzt die totale Kontrolle bei der Ausarbeitung der neuen Verfassung. Dabei wurde der linke Präsident Gabriel Boric erst vor einem Jahr mit einer linken Mehrheit gewählt. Ein ähnlicher Pendelschwung nach rechts könnte sich bald in Argentinien und mittelfristig in Brasilien oder Kolumbien wiederholen.

von Alexander Busch, Lateinamerika-Korrespondent für Handelsblatt und NZZ

 

In eineinhalb Jahren hat sich in Chile die politische Stimmung völlig gedreht. Noch im Dezember 2021 wählte eine Mehrheit den ehemaligen Studentenführer Gabriel Boric mit seiner linken Regierungskoalition.

Jetzt haben die Chilenen bei den Wahlen zum Verfassungsrat mehrheitlich rechts-konservativ gestimmt. Die Republikanische Partei um den ehemaligen Präsidentschaftskandidaten José Antonio Kast erlebte einen Erdrutschsieg. Gemeinsam mit der traditionellen Rechte haben sie nun eine qualifizierte Mehrheit im Rat. Der soll bis November die neue Verfassung ausarbeiten. Borics Links-Mitte-Koalition schnitt so schlecht ab, dass sie in dem Organ nicht mal eine Vetomacht hat.

Dadurch ist die paradoxe Situation entstanden, dass eine rechte Partei, die nie eine neue Verfassung wollte, die Ausarbeitung eines neuen Grundgesetzes kontrollieren wird.

Der Grund für den Wandel im Abstimmungsverhalten Chiles lässt sich mit dem schwachen Abschneiden der Regierung Boric erklären. Zwei Drittel der Menschen in Chile lehnen seine Mitte-Links-Regierung ab. Die Bevölkerung ist besorgt angesichts der hohen Kriminalität, der Rezession und hohen Inflation sowie der Immigration. Bei diesen Themen punkten traditionell die rechten Parteien.

Obwohl 2020 noch knapp 80 Prozent der Chilenen eine neue Verfassung wollten, ist ihnen das inzwischen nicht mehr so wichtig. Sie haben andere existenziellere Probleme. Zudem macht sich in Chile eine Abstimmungsmüdigkeit breit: Sieben Mal sind die 15 Mio. Wählerinnen und Wähler seitdem zu den Urnen gerufen worden.

Spannend wird nun, ob Kast und seine Partei die Chance nutzen und tatsächlich eine neue Vorlage ausarbeiten werden. Die Mehrheit der Chilenen will, dass mehr sozialdemokratische Elemente in die existierende Verfassung integriert werden. Gut möglich ist aber auch, dass Kast und seine politischen Mitstreiter auf Konfrontationskurs gehen. Sie könnten versuchen, rechtskonservative Forderungen wie der nach einem allgemeinen Abtreibungsverbot zu Verfassungsgesetzen zu machen.

Dann wäre die Wahrscheinlichkeit groß, dass bei der nächsten Abstimmung im Dezember auch diese Vorlage abgelehnt würde – wie die vorherige linke Version im September 2022. Ein Ablehnung würde Kasts künftige politischen Chancen verringern.

Die Investmentbanken haben mehrheitlich das Abstimmungsergebnis in Chile begrüßt. Sie hoffen nun, dass sich die allgemeine Unsicherheit über die künftige Verfassung und den wirtschaftlichen Kurs der Regierung Boric reduzieren wird und die Investoren wieder Vertrauen in das Andenland bekommen. Dennoch werden die politische Spannungen anhalten.

Gut möglich ist jedoch, dass sich dieser Rechtsruck kurz- bis mittelfristig auch in anderen Ländern der Region wiederholen könnte. Also überall dort, wo die regierenden linken Regierungen wenig erfolgreich dabei sind, auf die Sorgen und Nöte der Bürger einzugehen.

So etwa in Argentinien, wo im Oktober wahrscheinlich eine konservative Regierung gewählt wird – nach der politisch schwachen Amtszeit des Peronisten Alberto Fernández. Aber auch Gustavo Petro in Kolumbien und selbst Luiz Inácio Lula da Silva zeigen schon zu Beginn ihrer Amtszeit deutliche Schwächezeichen.

Anden
© Unsplash/Caio Silva

Druck auf die Zentralbanken und Finanzminister in Lateinamerika steigt

Das deutlich höhere Wachstum im ersten Quartal dieses Jahres haben die Wenigsten erwartet. Doch für den längerfristigen Konjunkturverlauf wird entscheidend sein, wann die Zentralbanken ihre Zinsen senken werden. Darüber ist in der Region ein heftiger Streit entbrannt.

von Alexander Busch, Lateinamerika-Korrespondent für Handelsblatt und NZZ

 

Im ersten Quartal ist das Wachstum in den meisten Volkswirtschaften Lateinamerikas deutlich höher ausgefallen, als erwartet. So prognostizierte die Investmentbank JP Morgan noch zu Jahresbeginn im ersten Quartal ein schrumpfendes Wachstum von -0,4 Prozent des Bruttoinlandprodukts. Nun rechnen die Ökonomen damit, dass die Wirtschaft in der Region um 2,1 Prozent gewachsen sein könnte.

Vor allem in Chile, Brasilien und Mexiko legten die Ökonomien deutlich stärker zu. Das liegt einerseits an den stabilen Exporten nach China (Chile), den Rekordergebnissen bei den Agroausfuhren (Brasilien) sowie der weiteren Erholung des inländischen Konsums (Mexiko). Nur in Peru, Uruguay und Argentinien fiel das Wachstum deutlich geringer aus als erwartet.

Doch die Erholung könnte bald wieder vorbei sein. Der Internationale Währungsfonds und die meisten Investmentbanken prognostizieren für die Region weiterhin ein niedriges Wachstum in diesem Jahr: Nach dem Plus von 3,6 Prozent im vergangenen Jahr dürfte das Wachstum auf rund ein Prozent zurückgehen, heißt es bei JP Morgan. Oxford Economics rechnet mit einem Plus von nur 0,4 Prozent in den sechs größten Volkswirtschaften der Region.

Weil sich die Konjunktur nun wieder einzutrüben droht, haben die Regierungen in allen Ländern den Druck auf die Zentralbank und den Finanzminister erhöht. Sie wollen, dass die Banken endlich die Zinsen senken und die Finanzministerien die staatlichen Budgets ausweiten. Dann könnten der private Konsum und die Investitionen zulegen und der Staat hätte mehr Kapital zur Verfügung, um seinerseits das Wachstum anzukurbeln.

Doch die Zentralbanken weigern sich, weil sie die immer noch hohe Inflation in ihren Ländern mit einer restriktiven Geldpolitik bekämpfen wollen. Nicht das Wachstum, sondern die Geldstabilität ist ihr Auftrag. Auch die Finanzminister versuchen die Ausgaben zu kontrollieren, damit die Defizite in den Staatshaushalten nicht wieder anwachsen.

So macht der brasilianische Präsident Luiz Inácio Lula da Silva immer wieder die Zentralbank für das langsame Wachstum verantwortlich. Am liebsten würde er den Zentralbankpräsidenten entlassen. Doch das geht nicht. Die Zentralbank ist autonom. Erst Ende nächsten Jahres kann Lula den Präsidenten ersetzen.

In Kolumbien hat Gustavo Petro gerade bei einer Kabinettumbildung seinen bei Investoren angesehen Finanzminister José Antonio Ocampo ausgetauscht. In Mexiko kürzte Präsident Andrés Manuel López Obrador das Gehalt der Spitzenbeamten, weil ihm die Entscheidungen der Zentralbank ein Dorn im Auge sind.

Die Attacken der Regierungen auf die Zentralbanken haben jedoch einen negativen Effekt: So sind in Brasilien die Inflationserwartungen für Ende 2023 von rund 5 auf 6 Prozent gestiegen. Die Investoren befürchten, dass die Zentralbank auf Druck der Regierung die Zinsen schneller senken könnte, als es für das Inflationsziel nötig wäre. Auch in Kolumbien und Mexiko dürften die Zinssenkungen später beginnen als noch vor kurzem erwartet und damit das Wachstum belasten.

Die gute Nachricht: In Uruguay hat die erste Zentralbank Lateinamerikas jetzt den Leitzins gesenkt. In Chile könnte es ab Mitte des Jahres so weit sein.

mexican-pesos
© Pixabay/Yolanda

Brasilien und Mexiko haben das gleiche Problem: Sie wachsen zu wenig

Die beiden größten Ökonomien Lateinamerikas entwickeln sich derzeit erstaunlich ähnlich – obwohl sie völlig unterschiedliche Strukturen haben.

von Alexander Busch, Lateinamerika-Korrespondent für Handelsblatt und NZZ

 

In Brasilien und Mexiko, den beiden größten Volkswirtschaften Lateinamerikas, haben die Zentralbanken schon lange vor FED und der ECB die Zinsen erhöht, um die Inflation zu bremsen. Nach den Prognosen der Investmentbanken wie JP Morgan wird die Teuerung in beiden Ländern dieses Jahr auf etwa 5,5 Prozent sinken.

Doch die Erfolge an der Inflationsfront sind teuer erkauft: Die hohen Zinsen in Brasilien sind einer der Gründe, warum die Wirtschaft Ende letzten Jahres in die Rezession rutschte. Dieses Jahr wird Brasilien nur 0,5 Prozent wachsen (2022: 2,9 Prozent). In Mexiko dagegen haben sich trotz der hohen Zinsen die Wachstumsprognosen für dieses Jahr zuletzt verbessert. Aber auch nur 1,7 Prozent wird die Nummer 2 unter den Ökonomien Lateinamerikas dieses Jahr zulegen. 2022 waren es noch 3,1 Prozent.

Mexiko profitiert dabei vor allem von der Nähe zu den USA und dem privilegierten Zugang zum größten Binnenmarkt weltweit. Die USA, Mexiko und Kanada sind in der USMCA-Freihandelszone miteinander integriert. Jetzt haben in kurzem Abstand BMW und danach Tesla angekündigt, dass sie in Mexiko die Produktion von Elektroautos starten werden. Bereits im vergangenen Jahr investierten ausländische Konzerne mit 35 Mrd. Dollar so viel wie zuletzt 2015 in Mexiko. Die Überweisungen von Mexikanern aus den USA machen zusätzlich vier Prozent des BIP aus.

Aber auch Brasilien konnte letztes Jahr seine Auslandsinvestitionen auf 91 Mrd. Dollar steigern. Damit steht das Land auf Platz 4 weltweit nach den ausländischen Direktinvestitionen. Zuletzt waren es vor elf Jahren so viel, als Brasilien noch zweistellig wuchs.

Auch sonst gleichen sich die beiden größten Ökonomien in vielen Makrodaten, trotz der unterschiedlichen Struktur ihrer Wirtschaften: Denn während Brasilien vor allem Rohstoffe, Lebensmittel und Energie exportiert, dominieren in Mexiko die industriellen Produkte in der Exportpalette. Entscheidend in beiden Ökonomien ist der Konsum auf dem Binnenmarkt für das Wachstum. So konzentrierte Brasilien mit einem Bruttoinlandsprodukt von 1.919 Mrd. Dollar 38 Prozent des Lateinamerika-BIP auf sich. Mexiko folgte mit 1.421 Milliarden Dollar und 23 Prozent der regionalen Wirtschaftsleistung.

Bei Inflation, den Leistungsbilanzdefiziten und den Dollarschulden stehen beide Volkswirtschaften ziemlich ähnlich da. Die wichtigsten Unterschiede zeigen sich in ihren Staatshaushalt: Während Brasilien ein staatliches Defizit von über acht Prozent des BIP produziert, also weit mehr ausgibt, als es einnimmt, beträgt das Minus in Mexikos Staatshaushalt nur vier Prozent.

Bei einem entscheidenden Punkt schneiden jedoch beide Ökonomien ähnlich schlecht ab: Sie wachsen beide deutlich zu wenig im Vergleich zum Durchschnitt der Emerging-Markets weltweit. Mexiko hat knapp wieder das Niveau von vor der Pandemie erreicht. Nächstes Jahr werden beide Volkswirtschaften nur ein Prozent wachsen – so JP Morgan. Das ist viel zu wenig angesichts der Armutsprobleme dieser Länder.

Mexiko
© Fotolia/Daniel Hohlfeld

EIU-Demokratie-Index: Chile steigt auf, Mexiko verliert

Die Qualität der Demokratien in Lateinamerika sinkt seit 2015 jährlich weiter. Dennoch gibt es positive Entwicklungen.

von Alexander Busch, Lateinamerika-Korrespondent für Handelsblatt und NZZ

 

Lateinamerika bleibt die Region weltweit mit der höchsten Demokratiedichte nach Nordamerika und Europa – so der neueste Demokratie-Index der Economist Intelligence Unit (EIU) für das Jahr 2022. Doch die Qualität der Demokratien in Lateinamerika ist weiter gesunken – im siebten Jahr in Folge.

Dabei gibt es in Lateinamerika bezüglich der Demokratien zwei gegensätzliche regionale Trends: So entwickeln sich Zentralamerika, die Karibik und Mexiko zunehmend autoritärer. Südamerika dagegen kann das Niveau seiner Demokratien weitgehend halten.

El Salvador, Mexiko und Haiti sind die demokratischen Absteiger der Region.

Besonders bedenklich ist das für Mexiko, wo etwa 20 Prozent der Lateinamerikaner leben. Präsident Andrés Manuel López Obrador versucht hartnäckig, den Einfluss der Wahlbehörde zu reduzieren, und setzt zunehmend auf das Militär in der Wirtschaft. Zudem ist die Unabhängigkeit der Medien bedroht, so der EIU.

In Südamerika dagegen haben sich im letzten Jahr die Demokratien behauptet: Das gilt besonders für Brasilien, Kolumbien und Chile. Dort haben durch Wahlen legitimierte, grundsätzliche politische Wechsel stattgefunden.

In Brasilien konnte die zunehmende Erosion der demokratischen Institutionen unter Präsident Jair Bolsonaro durch seine Abwahl gestoppt werden. Auch der Versuch seiner Anhänger, das Wahlergebnis mit Hilfe der Militärs zu annullieren, schlug fehl.

In Kolumbien gelangte mit Gustavo Petro erstmals ein linker Politiker mit dem klaren Mandat der Wähler an die Macht. Auch in Chile ist Gabriel Boric als linker Präsident inmitten einer komplexen Verfassungsreform gewählt worden.

In beiden Staaten wurden trotz der zum Teil knappen Ergebnisse die Wahlen nicht angezweifelt. Es gelang, die aufgeladene und polarisierte Stimmung in der Bevölkerung zu entschärfen. Kurz vor der Pandemie war es in beiden Staaten zu landesweiten, gewalttätigen Protesten gekommen.

Zudem befinden sich in Südamerika mit Uruguay und Chile – neben dem mittelamerikanischen Costa Rica – drei Staaten in der demokratischen Spitzengruppe von 24 Staaten weltweit. Das zeigt, dass demokratischer Fortschritt auch angesichts der komplexen Herausforderungen in der Region möglich ist. Uruguay ist der Spitzenreiter auf Platz 11, drei Positionen vor Deutschland. Costa Rica und Chile liegen etwa auf dem Niveau Großbritanniens oder Österreichs.

Dennoch ist das nur ein schwacher Trost: Diese drei Vorbilddemokratien vereinen gerade mal vier Prozent der 670 Millionen Lateinamerikaner. Knapp die Hälfte (45 Prozent) lebt in autoritären Staaten oder in Demokratien mit großen Mängeln, also „fehlerhaften Demokratien“ („flawed democracies“). Für knapp zwei Drittel (62 Prozent) der Lateinamerikaner hat sich der Zustand ihrer Demokratien verschlechtert.

Diktaturen sind Cuba, Nicaragua, Venezuela und Haiti. In El Salvador ist Präsident Nayib Bukele dabei, sein Land in ein autoritäres Regime zu verwandeln.

Als eine der größten Bedrohungen der Demokratien in Lateinamerika sieht der EIU die wachsende Macht der Drogenmafias und der Milizen. Durch ihre extrem hohen Gewinne falle es ihnen leicht, die demokratischen Institutionen durch Korruption auszuhöhlen.

© Pixabay/Michelle Maria

Deutschland und Südamerika aktualisieren ihre Beziehungen – dafür wurde es auch Zeit

Bundeskanzler Scholz´ Besuch in Südamerika ebnet den Weg für eine engere Zusammenarbeit mit der lange vernachlässigten Region. Es ist der erste Schritt einer Annäherung zwischen Partnern, die sich aus den Augen verloren haben.

von Alexander Busch, Lateinamerika-Korrespondent für Handelsblatt und NZZ

 

Vor acht Jahren hat Bundeskanzlerin Angela Merkel zuletzt Brasilien besucht. Im Rahmen der strategischen Partnerschaft mit dem Land startete sie Konsultationen zwischen den beiden Regierungen. Die sollten auf höchster Ebene regelmäßig alle zwei Jahre stattfinden.

Doch zu einer Fortsetzung kam es nie. Brasilien befand sich schon damals in einer schweren wirtschaftlichen wie politischen Krise. Kurz danach kam es zum Impeachment von Dilma Rousseff. Brasiliens Wirtschaft stagnierte über eine Dekade und zuletzt isolierte Präsident Jair Bolsonaro Brasilien mit seiner Umwelt- und Menschenrechtspolitik im Westen.

Im Nachhinein lässt sich sagen: Deutschland kam mit dem Angebot der Regierungskonsultationen mit Brasilien zehn Jahre zu spät. Denn der wirtschaftliche Boom und die geopolitische Aufwertung Brasiliens fanden von 2005 bis 2012 statt. Deutschland hatte die Aufbruchstimmung in Südamerika schlichtweg verschlafen.

Aber auch Lateinamerika insgesamt besaß lange keine Priorität bei der deutschen Regierung. Merkels Visite 2017 in Mexiko und Argentinien blieb weitgehend unbemerkt. Die Außenminister Guido Westerwelle (2009 bis 2013) und Heiko Maas (2018 bis 2021) versuchten die Region als Schwerpunkt ihrer Außenpolitik aufzuwerten – mit wenig Erfolg.

Das hat sich nun geändert: Bundeskanzler Scholz besuchte gerade in einer viertägigen Reise Argentinien, Chile und Brasilien. Diesmal stimmte vieles:

Timing: Der Kanzler besuchte Regierungen, denen die ausländische Aufmerksamkeit willkommen war. In Brasilien ebnete Scholz als erster Regierungschef auf Besuch seinem Kollegen Lula den Weg zurück in die Weltpolitik. Dem isolierten Argentinien zollte er Respekt. Auch Präsident Boric in Chile, der in einem Umfragetief steckt, konnte die Unterstützung durch Scholz gut gebrauchen. In allen drei Ländern wurde der Besuch aus Deutschland ausführlich registriert. Das war nicht immer so.

Politische Affinität: In den Staaten sind Regierungen an der Macht, die politisch der Ampelkoalition in Berlin nahestehen. Das gegenseitige Vertrauen ist größer als in den letzten zwei Dekaden. Das erleichtert den Austausch.

Interessenkoalition: So wie sich Deutschland in Südamerika Rohstoffe, Energie und Absatzmärkte sichern will, erhoffen sich die südamerikanischen Regierungen von Europa Technologietransfer, besseren Marktzugang und politische Alternativen zu den Großmächten China und den USA. Davon könnte das Abkommen zwischen dem Mercosur und der EU profitieren. Es ist für beide Seiten interessant.

Strategie: Scholz trat in Südamerika mit einer Mischung aus Soft-Power und Cash auf. Bei seinen Besuchen betonte er den Wert der Menschrechte und den Kampf für die Demokratie. Die ebenfalls in Brasilien anwesende Svenja Schulze, Ministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, regte eine engere Kooperation bei Umwelt- und Klimapolitik an und kündigte großzügige Mittel für ein Sofortprogramm an.

In Deutschland sorgte vor allem für Schlagzeilen, dass Brasiliens Präsident Lula im Ukrainekonflikt keine Partei ergreifen will und auf eine Friedenslösung drängt.

Das ist jedoch nicht überraschend und zeigt, wie schwierig es für den Westen ist, den globalen Süden im Ukraine-Krieg gegen Putin zu mobilisieren. In Lateinamerika ist der Rückhalt für Sanktionen gegen Russland gering.

Für Berlin sind diese Erfahrung genauso wichtig wie für Brasília, Buenos Aires und Santiago: Nur wenn Europa und Lateinamerika ihre Beziehungen einem Realitätsschock unterziehen, steigen die Chancen für künftige realistische Abkommen. Das EU-Mercosur-Abkommen, das nach 20 Jahren Verhandlungen auf Eis liegt, ist ein abschreckendes Beispiel dafür, wie es nicht weitergehen soll.

Brasilia
© Pixabay/doloresbarrioslua

Der Bundeskanzler besucht Südamerika – das Timing könnte nicht besser sein

Der Bundeskanzler trifft bei seiner Blitzvisite die Präsidenten Argentiniens, Chiles und Brasiliens. Bei allen Regierungen ist die politische Unterstützung aus Europa derzeit willkommen. Das sind gute Voraussetzungen, um über die Wiederbelebung des EU-Mercosur-Abkommens und die Versorgung mit Rohstoffen und grüner Energie zu sprechen.

von Alexander Busch, Lateinamerika-Korrespondent für Handelsblatt und NZZ

 

Selten zuvor dürfte ein deutscher Kanzler in Südamerika mit so viel Wohlwollen und Aufmerksamkeit empfangen werden wie dieser Tage – auch wenn Olaf Scholz jeweils weniger als einen Tag in Buenos Aires, Santiago und Brasília verbringen wird.

All diese Regierungen stehen derzeit unter großen Druck:

In Argentinien stecken Wirtschaft und Politik in einer schweren Krise. Die Inflation beträgt fast 100 Prozent, die Devisenkasse ist leer und die Wirtschaft droht wieder zu stagnieren. Die Regierung ist ratlos, wie sie das Land aus der Krise fahren kann. Ohne die Hilfe des IWF wäre das Land zahlungsunfähig.

Für Präsident Alberto Fernández ist der Besuch des Bundeskanzlers vor allem eine wichtige politische Aufwertung, um zu zeigen, dass Argentinien nicht isoliert ist. Im Oktober sind Wahlen, da ist für Fernández jede positive Nachricht ein Plus.

Als Verhandlungspartner ist Argentinien schwierig: Innerhalb des Mercosur ist Argentinien der größte Bremser, der geschützte Märkte für seine Industrie wünscht und das Abkommen nachverhandeln will.

In Chile ist die Popularitätsrate von Präsident Boric im Keller: Zwei Drittel der Chilenen lehnen seine Regierung ab. Die Inflation ist mit fast 13 Prozent so hoch wie noch nie, die Zentralbank bremst. Die Wirtschaft wird dieses Jahr stagnieren.

Politisch ist die Regierung Boric möglicherweise diejenige, die der rot-grün-gelben Koalition in Berlin in Südamerika am nächsten steht. Zudem ist die Regierung an einer engen Partnerschaft mit Deutschland bei Rohstoffen und erneuerbaren Energien interessiert und auf dem Gebiet deutlich weiter fortgeschritten und verlässlicher als Argentinien oder Brasilien.

In Brasília ist die wichtigste Etappe des Bundeskanzlers. Lula ist dabei, Brasilien wieder auf die Bühne der Weltpolitik zurückzuführen. Kurz nach Scholz wird er die Präsidenten Joe Biden in den USA und Xi Jinping in China treffen. Nach dem knappen Wahlsieg, dem Amtsantritt und den Ausschreitungen in Brasília hat Lula an politischer Stärke gewonnen. Die Wirtschaft bleibt ihm gegenüber skeptisch.

Auch der brasilianische Präsident ist an einem schnellen Abschluss des EU-Mercosur-Abkommens interessiert und versucht dafür, die Reihen zwischen den vier Mitgliedsstaaten in Südamerika zu schließen. Mit einer überzeugenden Umwelt- und Menschenrechtsagenda wird er Scholz helfen, auch in Europa die Widerstände gegen ein Abkommen mit dem Mercosur zu verringern.

Lula scheint derzeit seine einstige Außenpolitik wiederbeleben zu wollen: Dabei sieht er Brasilien in der Rolle des Vermittlers und Sprechers des globalen Südens. Ob diese Ambition noch in die Zeit der zunehmenden geopolitischen Spannungen und Auseinandersetzungen passt, bleibt abzuwarten.

Das heißt jedoch: Europa ist nur einer und sicherlich nicht der wichtigste außenpolitische Partner Brasiliens – die USA und China haben für den Pragmatiker Lula eindeutig Priorität. Das gilt auch umgekehrt: China ist derzeit hoch aktiv dabei, nach der Pandemiepause wieder seine Investitionen und politische Kanäle nach Brasilien und Südamerika zu beleben. Auch seitens der USA erfährt die Lula-Regierung eine Aufmerksamkeit, die Washington seit Jahrzehnten nicht mehr gegenüber Brasilien gezeigt hat.

Der Besuch des Bundeskanzlers ist auch so wichtig, weil Berlin den Kontinent fast eine Dekade links liegen ließ. Für die deutsche Wirtschaft ist die Reise von Scholz deswegen eine besondere Chance, in Südamerika doch noch den Fuß in die sich schließende Tür zu bekommen.

Amazonas Regenwald
© Pixabay/Nile

EU-Mercosur-Abkommen: Ist 2023 die letzte Chance?

Bei seinem Gipfeltreffen vor wenigen Tagen zeigte sich der Mercosur uneins. Wenn nicht bald Impulse aus Brasilien für eine neue Integration in Südamerika kommen, dann wird auch das Abkommen mit der EU kaum noch zu retten sein.

von Alexander Busch, Lateinamerika-Korrespondent für Handelsblatt und NZZ

 

Ein trauriges Bild gab der Mercosur bei seinem traditionellen Treffen ab. Wie bei den Gipfeln in den letzten Jahren fehlte der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro. Der uruguayische Präsident Luis Lacalle Pou übergab die temporäre Präsidentschaft für die nächsten sechs Monate an Alberto Fernández aus Argentinien.

Doch von Harmonie war wenig zu spüren beim Gipfel. Der argentinische Präsident kritisierte Uruguay heftig. Denn das Land verhandelt nicht nur mit China über ein Freihandelsabkommen – was nach den Statuten der Gemeinschaft nicht erlaubt ist. Nur gemeinsam können die vier Mitgliedsstaaten Verhandlungen mit anderen Partnern abschließen. Lacalle Pou verkündete jetzt beim Gipfel aber zudem, dass Uruguay die Mitgliedschaft bei der Transpazifischen Partnerschaft (kurz TPP) beantragt habe. Das ist die große Pazifikanrainer-Allianz aus elf asiatischen und amerikanischen Staaten, der aber auch bald China beitreten könnte.

Auf die Kritik aus Argentiniens erklärten Uruguays Vertreter sinngemäß, dass der Mercosur zunehmend zu einer Last für ihr Land werde. Der fehlende Willen des Mercosur, neue Abkommen mit anderen Regionen oder Ländern zu schließen, würde Uruguays Potenzial im Welthandel beschränken. Mit keiner der zehn größten Ökonomien weltweit habe der Mercosur ein Abkommen ausgehandelt.

Der argentinische Präsident wiederum erklärte diese Tage, dass er das Abkommen mit der EU noch mal nachverhandeln wolle. Die argentinische Automobilindustrie bräuchte mehr Schutz als in dem Vertrag vorgesehen sei. Vor allem die europäischen Autobauer würden sonst das Pampaland mit ihren Exporten überschwemmen. Dass viele der Autofabriken in Argentinien europäischen Herstellern gehören – das schien dem argentinischen Präsidenten kein Widerspruch zu sein.

Auch sonst ist Argentinien innerhalb des Mercosur das Land, welches am stärksten die Einfuhren aus den Partnerländern behindert: Von den 87 Marktzugangsbeschränkungen, die gegen brasilianische Exporteure weltweit verhängt sind, stammen zwölf aus Argentinien.

Gleichzeitig wirbt Josep Borrell, der EU-Außenbeauftragte aus Spanien, diese Tage in Südamerika intensiv dafür, das Abkommen zwischen dem Mercosur und der EU mit einer neuen Dynamik zu füllen. „Die brasilianische Präsidentschaft des Mercosur und die spanische Präsidentschaft der EU in der zweiten Hälfte des Jahres 2023, bieten eine großartige Gelegenheit, den Beziehungen zwischen der EU und dem Mercosur den nötigen neuen Schwung zu verleihen.“

Entscheidend dürfte jedoch die Position Brasiliens unter Luiz Inácio Lula da Silva sein, der am 1. Januar 2023 seine Präsidentschaft antritt. Bisher war zum Abkommen mit der EU von Lula auch nur zu hören, dass man noch mal nachverhandeln müsse.

Lulas designierter Außenminister Mauro Vieira erklärte jetzt in seinem ersten ausführlichen Pressegespräch, dass die ersten internationalen Reisen des Präsidenten nach Argentinien, die USA und China führen werden. Ansonsten sei neben Süd- und Lateinamerika vor allem auch Afrika Priorität der neuen Regierung. Europa und den Mercosur erwähnte Vieira nur nebenbei.

Es dürfte sich also in den nächsten Monaten entscheiden, ob das Abkommen zwischen der EU und dem Mercosur mit neuem Leben gefüllt werden kann – oder endgültig aufgegeben werden sollte.

Buenos Aires
© Pixabay/Herbert Brant

Geopolitisches Tauwetter mit den USA macht Venezuela wieder interessant

Vier Jahre war Venezuela international ein Paria. Das ändert sich gerade. Mittelfristig könnte Venezuela auch für deutsche Unternehmen interessant werden.

von Alexander Busch, Lateinamerika-Korrespondent für Handelsblatt und NZZ

 

Letzte Woche verkündeten die USA eine Sondergenehmigung für nationale Unternehmen, die in Venezuela tätig werden wollen: Ab sofort dürfen der US-Ölkonzern Chevron und auch die nordamerikanischen Service-Unternehmen der Ölindustrie (Halliburton, Schlumberger, Baker Hughes und Weatherford) in Venezuela wieder Ölanlagen restaurieren und Öl fördern. Chevron muss das produzierte Öl in die USA exportieren. Damit sollen die aufgelaufenen Schulden Venezuelas gegenüber dem kalifornischen Unternehmen getilgt werden. Der venezolanische Staat darf keine Steuern oder Royalties auf die Produktion erheben.

Das ist eine Kehrtwende der US-Politik gegenüber Venezuela. 2018 hatte US-Präsident Donald Trump nach gefälschten Wahlen das reichste Ölland des Westens mit harten Sanktionen belegt. Jeglicher Handel mit Venezuela in Dollar ist bis heute verboten.

Doch jetzt sucht der Westen neue Ölquellen nach dem Ausfall des russischen Öls auf dem Weltmarkt. Und Maduro steht das Wasser bis zum Hals. Lange Zeit konnte er die Sanktionen mit Hilfe russischer Banken umgehen. Doch dieser Kanal ist seit Beginn des Russlandkrieges in der Ukraine verschlossen.

So ist es seit Kriegsbeginn in der Ukraine kontinuierlich zu einer Annäherung zwischen den USA und Venezuela gekommen: Im Prinzip geht es Washington darum, von Maduro Zusagen für demokratische Wahlen zu erhalten. Im Gegenzug dafür bieten die USA eine schrittweise Auflösung der Sanktionen an.

Noch ist völlig offen, ob es zu einer Renaissance Venezuelas als großer Ölproduzent des Westens kommen wird. Entscheidend ist, ob Maduro bereit ist, faire und saubere Wahlen abzuhalten. In acht Jahren wurde in fünf Verhandlungsgruppen versucht, eine Einigung zu erzielen. Maduro war jedoch nie bereit zu Zugeständnissen.

Das Tauwetter in den Beziehungen zu den USA könnte auch für andere Unternehmen wieder Chancen in Venezuela eröffnen – auch deutsche. Denn Venezuela erlebt dieses Jahr erstmals wieder ein Wachstum nach der schweren jahrzehntelangen Rezession, welche die Wirtschaft um 80 Prozent schrumpfen ließ. Die Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik rechnet dieses Jahr mit einem Wachstum von 12 Prozent (2023: 5 Prozent). Mit der Zulassung des Dollars als Zweitwährung hat Maduro seit 2019 die Inflation eindämmen können. Auch der lokale Konsummarkt ist seitdem wieder erwacht. Vor allem aus den USA gelangen Konsumartikel ins Land, seitdem die Regierung die Importzölle aufgehoben hat.

Zwar dürfen ausländische Unternehmen nur Produkte im Bereich Pharma und Nahrungsmittel nach Venezuela liefern – alle anderen Importe sind wegen der US-Sanktionen verboten. Doch wer im Land produziert, ist von den Sanktionen nicht betroffen. Als aussichtsreich gelten Investitionen in den Sektoren Energie, Telekommunikation, Agroindustrie und Tourismus.

Es scheint, als sollte die deutsche Wirtschaft Venezuela wieder in den Blick nehmen.

Öltanker
© Pixabay/David Mark

Die Interamerikanische Entwicklungsbank steht vor dem Führungswechsel

In den nächsten Tagen wird über die neue Präsidentschaft der führenden Entwicklungsbank für Lateinamerika entschieden. Das ist wichtig: Die IDB braucht neue Motivation und dringend einen Energieschub.

von Alexander Busch, Lateinamerika-Korrespondent für Handelsblatt und NZZ

 

Am Sonntag wird das Präsidium (Board of Governors) der Interamerikanischen Entwicklungsbank (IDB) die neue Präsidentschaft für die nächsten fünf Jahre wählen. Das ist eine zentrale und wichtige Entscheidung für die Region.

Mit einer Kreditvergabe von 23,4 Mrd. Dollar 2021 ist sie neben der Weltbank und der Lateinamerikanischen Entwicklungsbank CAF der wichtigste multilaterale Finanzier für die Region. Neben den USA, die mit 30 Prozent Anteilen das Sagen haben, sind Brasilien und Argentinien mit elf Prozent Stimmanteil die einflussreichsten Mitglieder. Aber auch Deutschland etwa ist mit 1,9 Prozent an der Bank beteiligt, Japan hält fünf Prozent.

Es ist völlig offen, wer das Rennen machen könnte: Aus Brasilien bewirbt sich Ilan Goldfajn, der in Washington beim Internationalen Währungsfonds (IWF) derzeit federführend für Lateinamerika zuständig ist. Viele halten ihn wegen seiner Erfahrungen als Ex-Zentralbankchef in Brasilien und an der Spitze führender privater Banken als den geeigneten Kandidaten. Ob Brasiliens gerade gewählter Präsident Luiz Inácio Lula da Silva dessen Kandidatur unterstützt, bleibt unklar.

Nicolás Eyzaguirre Guzmán, ehemaliger chilenischer Finanzminister und Vorgänger Goldfajns beim IWF, hat ebenfalls seinen Hut in den Ring geworfen. Er hat mit Links-Mitte-Regierungen in Chile gearbeitet und gilt deswegen als ein geeigneter Gesprächspartner für die neuen linken Regierungen in Südamerika. Auch Mexiko, Trinidad und Tobago sowie Argentinien haben Kandidaten ernannt.

Die Wahl findet nur zwei Jahre nach der letzten statt. Der von Präsident Donald Trump fast im Alleingang durchgesetzte Mauricio Claver-Carone musste seinen Posten räumen, weil er gegen die Compliance-Regeln verstoßen hat. Nach einem Untersuchungsbericht der Bank, soll er ein Verhältnis mit einer Mitarbeiterin gehabt haben, der er zudem zwei kräftige Gehaltserhöhungen in einem Jahr genehmigt haben soll.

Die Ernennung des US-Amerikaners Claver-Carone 2020 widersprach der ungeschriebenen Regel, die seit der Gründung 1959 eingehalten wurde: Die Präsidenten kamen immer aus Lateinamerika – das Sagen in der Bank mit Sitz in Washington haben jedoch vor allem die USA. Trump brach die Regel mit Unterstützung Brasiliens, das von Präsident Bolsonaro regiert wurde.

Claver-Carone war angetreten, die bürokratische, teure und mit politischen Seilschaften durchsetzte Bank neu auf die Beine zu stellen. Er scheiterte jedoch vor allem, weil er in Lateinamerika keine Netzwerke besaß und sich in der Region kaum auskannte.

Für Lateinamerika wäre nun eine agilere, risikobereitere Entwicklungsbank, die zudem mit größerem Kapital ausgestattet würde, ein Gewinn. Kompetente Bewerber für das Amt an der Spitze des wichtigsten multilateralen Geldgebers gibt es diesmal.

Dollars
© Pixabay/pasja1000

Aus Brasilien kommen positive Signale für die Demokratien weltweit

Die Wahlen in Brasilien haben die zunehmende Erosion der Demokratien im Westen vorerst gestoppt. Der Rechtsstaat des fünftgrößten Landes der Welt hat sich behauptet.

von Alexander Busch, Lateinamerika-Korrespondent für Handelsblatt und NZZ

 

Brasiliens demokratische Institutionen haben in den letzten Tagen Bestnoten verdient: Drei Stunden nach Schließen der Wahllokale stand am Wahlsonntag das Wahlergebnis fest – im fünftgrößten Land der Welt mit 215 Millionen Bürgern. Im Vergleich: Bei den gerade stattfindenden Zwischenwahlen in den USA wird das endgültige Ergebnis erst nach Tagen erwartet.

In Brasilien erklärten unmittelbar nach der Bekanntgabe der Ergebnisse die Spitzen von Abgeordnetenhaus, Senat und Oberstem Gericht, dass die Wahl sauber verlaufen sei und es keinen Grund gebe, das Ergebnis anzufechten. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass das Ergebnis doch noch in der Justiz hinterfragt wird. Gleichzeitig haben die Bürokratien und Politiker in Brasília reibungslos damit begonnen, den Machtwechsel vorzubereiten.

Auch als radikalisierte Anhänger Bolsonaros in den Tagen nach den Wahlen die Fernstraßen blockierten, weil sie die Wahlen für gefälscht hielten, behielt das Oberste Wahlgericht stets die Kontrolle über die Situation: Es wies die Sicherheitskräfte an, durchzugreifen – was diese auch taten. Zahlreiche einflussreiche Anhänger des Präsidenten und Wahlverlierers Bolsonaro aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft forderten ein Ende der Proteste.

Diese Demonstrationen haben derzeit an Schubkraft verloren, obwohl es bis zur Machtübergabe am 1. Januar 2023 durchaus weitere Unruhen geben könnte. Die Machtübergabe könnte immer noch holprig verlaufen. Das knappe Ergebnis der Wahlen hat in Brasilien viele Anhänger Bolsonaros enttäuscht zurückgelassen.

Positiv ist zudem, dass sich die brasilianische Demokratie dynamisch zeigt. Der in den letzten Jahren stattgefundene Rechtsruck in der Gesellschaft ist jetzt auch im Kongress und den Institutionen angekommen. Anders als in einigen Demokratien weltweit – etwa in Europa – zu beobachten, zeigt sich das Politiksystem Brasiliens damit als integrativ. Neue politische Akteure haben die Chance, über demokratische Wahlen an die Schaltstellen der politischen Macht zu kommen.

Das sind nach langer Zeit mal wieder erfreuliche Nachrichten aus dem globalen Süden, mit denen die Wenigsten gerechnet haben.

Brasília Kongress
© Pixabay/Daiana Sou