Lateinamerikas Wirtschaft gerät in den Sog der kriselnden Weltwirtschaft

In Lateinamerika trüben sich die Konjunkturaussichten ein. Die schwächere Weltwirtschaft drückt die Wachstumsprognosen für die Region. Der Vorteil: Die Zentralbanken in Lateinamerika haben den Zinserhöhungszyklus schon hinter sich, den Europa noch vor sich hat.

von Alexander Busch, Lateinamerika-Korrespondent für Handelsblatt und NZZ

 

Die Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL) hat gerade ihre neuesten Wachstumsprognosen für die Region veröffentlicht. Danach sinkt das Wachstum von 3,2 Prozent im Jahr 2022 bereits nächstes Jahr wieder auf 1,4 Prozent. Vor allem die beiden wichtigsten Ökonomien auf dem Kontinent werden stagnieren: Brasilien und Mexiko werden – so die CEPAL – nächstes Jahr jeweils nur rund ein Prozent wachsen. Chiles Wirtschaft könnte als einziges Land in der Region sogar in eine Rezession rutschen (-0,9 Prozent).

Die Gründe für das schwächer als noch vor kurzem prognostizierte Wachstum in Lateinamerika sind weniger in der Region als in der Weltwirtschaft zu suchen. So sind die Risikoeinschätzungen der Investoren weltweit gestiegen. Das hängt mit den Folgen des Russlandkrieges gegen die Ukraine zusammen, welche Unternehmen wie Konsumenten verunsichert. Die Aussichten für die Weltkonjunktur haben sich deutlich eingetrübt.

Die höheren Energiepreise weltweit befeuern die Inflation weiter. Die Zentralbanken in den Industrieländern sind dabei, die Zinsen zu erhöhen, um die Preissteigerungen auszubremsen. Dadurch fließt automatisch weniger Kapital in Emerging-Markets wie Lateinamerika.

Wie stark abhängig Lateinamerika von der Stimmung in den Industrieländern ist, das zeigt sich besonders am Beispiel Mexiko. Dort stabilisieren vor allem die Rücküberweisungen der Emigranten aus den USA die Wirtschaft. Die Überweisungen haben sich in den vergangenen zwölf Monaten verdoppelt. Die mexikanische Zentralbank schätzt, dass Mexikaner in den USA dieses Jahr 60 Milliarden Dollar nach Süden überweisen könnten. Das ist etwa so viel Kapital, wie ausländische Investoren und Unternehmen dieses Jahr in Brasilien investieren werden.

Diese Abhängigkeit von den Überweisungen aus den USA macht die Ökonomie Mexikos jedoch verletzbar: Derzeit bestehen rund vier Prozent der Wirtschaftsleistung (Bruttoinlandsprodukt) aus den Rücküberweisungen aus den USA. Doch die Wirtschaft der USA wird 2023 weniger stark wachsen. Dadurch dürften die Emigranten nächstes Jahr vermutlich weniger in ihre Heimat überweisen können – wodurch auch die Wirtschaft Mexikos stagnieren wird.

Positiv ist jedoch für Lateinamerika, dass die Zentralbanken in der Region bei der Inflationsbekämpfung weiter vorangekommen sind. Die Zinserhöhungszyklen in Brasilien, Chile, Kolumbien aber auch in Peru und Mexiko nähern sich dem Ende – damit ist die Region viel weiter als Europa oder die USA bei der Inflationsbekämpfung.

In der ganzen Region haben die Banken schneller und stärker die Zinsen erhöht, als das im Rest der Welt geschehen ist. Brasilien etwa hat in einem Jahr den Leitzins von 2 auf 13,75 Prozent erhöht. Die Inflation ist dabei von 12 auf 8 Prozent gesunken.

Das ist positiv für die Region: Sinkende Zinsen werden die Investitionen und den Konsum in Lateinamerika schneller wieder ansteigen lassen als in Europa und den USA.

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Die Wahlen in Brasilien haben die politische Landkarte Lateinamerikas bereits verändert

Die Rechte um Präsident Jair Bolsonaro hat im ersten Wahldurchgang in Brasilien einen Erdrutschsieg erlebt. Der Ex-Präsident Lula führt weiter. Europa muss sich auf ein verändertes Partnerland einstellen.

von Alexander Busch, Lateinamerika-Korrespondent für Handelsblatt und NZZ

 

Die Wahlen in Brasilien waren in ganz Lateinamerika mit großer Spannung erwartet worden. Was in Brasilien politisch und wirtschaftlich geschieht, hat starke Auswirkungen auf die Region wegen der Dominanz der brasilianischen Wirtschaft und der Größe des Landes und der Bevölkerung.

Nach dem ersten Wahldurchgang am 2. Oktober haben bereits jetzt Veränderungen stattgefunden, die unabhängig vom Ausgang der Stichwahlen am 30. Oktober für Südamerika entscheidend sein werden.

Zwei Überraschungen gab es: Einerseits gewann Präsident Jair Bolsonaro deutlich mehr Stimmen als in den Umfragen vorhergesagt. Statt rund 34 Prozent entschieden sich 43 Prozent der Wähler für ihn. Andererseits erlebte die Rechte um Präsident Jair Bolsonaro einen landesweiten Erdrutschsieg im Kongress und in den Bundesstaaten.

Das bedeutet, dass in Brasilien gerade eine politische Zeitenwende stattfindet: Bolsonaro hat bewiesen, dass er politisch keine rechtspopulistische Eintagsfliege ist. Er hat – wie sein Vorbild Trump in den USA – Brasiliens konservative Wende, die in den Flügeln teilweise rechtsradikal, zuweilen auch wirtschaftsliberal oder auch einfach nur wertkonservativ ausgeprägt ist, fest in der Politik verankert.

Damit hat er in Brasilien die sonst in Südamerika stattfindende Linkswende ausgebremst. Derzeit werden nur die kleinen Staaten Ecuador, Paraguay und Uruguay konservativ regiert. In Chile und Kolumbien sind dieses Jahr linke Regierungen an die Macht gewählt worden.

Die veränderte politische Konstellation in Brasilien wird auch dann Bestand haben, wenn Bolsonaro selbst am 30. Oktober nicht gewählt werden sollte. Denn der Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva hat weiterhin gute Chancen bei den Stichwahlen am Ende des Monats zu gewinnen. Er hat 48,4 Prozent der Stimmen bekommen. Es fehlten ihm nur knapp zwei Millionen Stimmen für einen Sieg im ersten Wahldurchgang. Doch auch ein Wahlsieg Bolsonaros ist gut möglich.

Die Finanzmärkte reagierten positiv auf das Ergebnis: Die Börse legte zu, der Dollar verlor und die Risikoaufschläge auf brasilianische Bonds sanken.

Die positive Reaktion lässt sich einerseits damit erklären, dass die Wirtschaft, in der viele hinter Bolsonaro stehen, nun weiterhin auf einen Wahlsieg des Präsidenten hofft.

Andererseits hat Lula jetzt nicht den erhofften Blankoscheck bekommen. Bisher hat er sich nur ausweichend zu seiner Personalauswahl und Vorstellungen zur Wirtschaft geäußert. Lula muss jetzt wirtschaftlich Farbe bekennen, um mehr Stimmen aus der Mitte und der Wirtschaft gewinnen zu können.

Darüber hinaus hat Lula mit dem konservativen Kongress und vielen Bundesstaaten in der Hand von Bolsonaro-Vertrauten machtvolle Kontrolleure vorgesetzt bekommen: Er muss verhandeln, Koalitionen bilden und kann nicht einfach durchregieren.

Für Europa bedeutet die politisch konservative Trendwende in Brasilien aber auch, dass die politischen sensiblen Themen auf der gemeinsamen politischen Agenda nicht einfach verschwunden sein werden mit einer Abwahl Bolsonaros. Im Gegenteil: Es sieht jetzt nach dem Rechtsruck in der Politik kaum danach aus, als könnten in absehbarer Zeit, Gesetze und Institutionen wiederbelebt werden zum Schutze des Amazonas oder der Umwelt.

Im Falle eines – weiterhin möglichen – Wahlsiegs Bolsonaros könnte der Präsident in seiner zweiten Amtszeit mit der Mehrheit im Kongress und vielen Bundesstaaten sogar noch viel einfacher seine Vorstellungen durchsetzen.

Europa sollte sich schon mal Gedanken machen, wie es auf das veränderte Brasilien reagieren will.

Papagei
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Brasiliens Wirtschaft steht überraschend positiv da

Seit Monaten dominieren die allgemeinen Wahlen im Oktober die Schlagzeilen zu Brasilien. Dabei wird übersehen, wie gut es der Wirtschaft des Landes derzeit geht.

von Alexander Busch, Lateinamerika-Korrespondent für Handelsblatt und NZZ

 

Brasilien erlebt das Finale eines angespannten Wahlkampfes, der am 2. Oktober mit dem ersten Wahldurchgang zu Ende sein könnte, wenn ein Kandidat für das Präsidentenamt die Mehrheit der gültigen Stimmen gewinnt. Wahrscheinlich kommt es jedoch zu Stichwahlen am 30. Oktober.

Da neben dem Präsidenten gleichzeitig Gouverneure, Abgeordnete und ein Teil der Senatoren gewählt werden, dominiert die Politik in Brasilien seit Monaten die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit.

Dabei wird die überraschende wirtschaftliche Erholung Brasiliens oftmals übersehen. Denn statt zu stagnieren, wie viele Ökonomen noch vor Kurzem prognostizierten, wird Brasilien dieses Jahr 2,6 Prozent wachsen. Die Arbeitslosigkeit ist unter zehn Prozent gesunken. Das ist die niedrigste Rate seit 2015. Heute sind so viele Menschen in Lohn und Brot wie zuletzt 2012 – als Brasilien noch ein Wachstumspol in der Weltwirtschaft war.

Die Inflation sinkt bereits wieder, weil die Zentralbank früh mit Zinserhöhungen reagierte. Am Jahresende könnte die Geldentwertung bei sechs Prozent stehen. Das ist wenig für ein Land mit einer Inflationsvergangenheit wie Brasilien.

Gleichzeitig strömt so viele Auslandskapital nach Brasilien wie schon lange nicht mehr. Brasilien war bereits 2021 die Nummer 5 weltweit unter den Standorten, die am meisten ausländische Direktinvestitionen empfingen – nur in den USA, China und Hongkong sowie Kanada investierten ausländische Konzerne mehr. Die Investmentbank JP Morgan schätzt, dass 2022 rund 56 Milliarden Dollar an Direktinvestitionen nach Brasilien kommen werden, also noch mal ein Zuwachs von zehn Prozent gegenüber dem Vorjahr.

Der Grund: Nicht nur die Energiewende und der Bedarf an grüner Energie und Rohstoffen machen Brasilien attraktiv als Investitionsstandort. Brasilien ist auch ein Profiteur des Ukraine-Konflikts. Einerseits verfügt das Land neben grüner und konventioneller Energie (Öl und Ethanol) auch über Agrarprodukte und industrielle Rohstoffe, deren Preise durch die Ukraine-Krise stark gestiegen sind.

Jetzt kommen zudem wieder Finanzinvestoren nach Brasilien. Sie suchen nach Investitionsmöglichkeiten in einem großen Markt, der möglichst weit weg ist vom Konflikt in Europa und dessen Unternehmen ebenfalls nicht davon betroffen sind.

Zusammen mit dem hohen Überschuss in der Handelsbilanz kann Brasilien als einer der wenigen Emerging-Markets weltweit derzeit problemlos sein Leistungsbilanzdefizit kompensieren.

Das alles wertet den Real auf. Der ist in diesem Jahr einer der härtesten Währungen weltweit. Er hat seit Jahresbeginn trotz der Dollarstärke rund zehn Prozent gegenüber der US-Währung zugelegt. Davon wiederum profitieren brasilianische Aktien und Bonds. Der Bovespa-Index zählt dieses Jahr zu den Aktienindizes, die weltweit am besten abschneiden.

Zwar lässt sich ein Teil des höheren Wachstums mit den Konjunkturspritzen durch die Regierung des Präsidenten Jair Bolsonaro erklären. Doch diese Wahlkampfhilfe mit Sozial- und Konjunkturprogrammen haben in Brasilien Tradition.

Entscheidend ist jetzt, dass die nächste Regierung ab Jahresanfang 2023 das politische Kapital nutzt, um für einen nachhaltigen Wirtschaftsaufschwung zu sorgen.

Rio de Janeiro
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Ausländische Konzerne vorsichtig mit Investitionen in Lateinamerika

Bei den letzten Infrastruktur-Ausschreibungen in Brasilien haben sich ausländische Investoren zurückgehalten. Die politische Unsicherheit und die durchwachsenen Wachstumserwartungen in der Region sind der Grund – das betrifft derzeit fast alle Staaten.

von Alexander Busch, Lateinamerika-Korrespondent für Handelsblatt und NZZ

 

Die brasilianische Regierung feierte die Ausschreibung des Flughafens von Congonhas letzte Woche als einen Erfolg. Das spanische Flughafenbetreiber Aena erhielt den Zuschlag mit dem doppelten Mindestgebot. Congonhas in São Paulo ist der zweitwichtigste Flughafen Brasiliens und einer der wichtigsten Lateinamerikas.

Dennoch verlief die Auktion unter den Erwartungen: Aena war das einzige interessierte Unternehmen. Alle anderen potenziellen Mitbewerber nahmen nicht teil. Dabei hatten Flughafen Zürich, Fraport aus Deutschland oder Vinci aus Frankreich in den letzten Jahren immer wieder erklärt, dass sie interessiert seien, ihr bereits bestehendes Portfolio in Brasilien auszuweiten.

Das verhaltene Interesse der ausländischen Unternehmen an Investitionen zeigt sich auch in den Nachbarländern: Auch Argentinien, Chile, Peru oder Kolumbien verzeichnen rückläufige Investitionen ausländischer Konzerne.

Dafür gibt es lokal unterschiedliche Gründe – aber einige Trends lassen sich erkennen. So hat das brasilianische Instituto Brasileiro de Economia da Fundação Getulio Vargas (FGV Ibre) in einer Umfrage in zehn lateinamerikanischen Ökonomien festgestellt, dass sich die Stimmung über die wirtschaftlichen Aussichten für die nächsten Monate massiv eingetrübt hat. Derzeit sind die Wachstumsaussichten schlechter als die Marktteilnehmer sie inmitten der Weltfinanzkrise 2009 sahen.

Tatsächlich rechnen die meisten Investmentbanken für 2023 mit einer stagnierenden Wirtschaft in Lateinamerika. Der Inflationsdruck hält an. Dadurch steigen die Kosten der Investitionen. Gleichzeitig erhöhen die Zentralbanken die Zinsen, was den Konsum einschränkt.

Doch es sind auch politische Gründe, welche Investoren derzeit vor Investitionen in Lateinamerika abschrecken. Das gilt für Länder wie Argentinien, die sich inmitten schwerer Krisen befinden. Dort ist unklar, ob es die Regierung noch schafft, bis zum Ende der Legislaturperiode zu regieren. Gleichzeitig kontrolliert sie massiv den Kapitalverkehr, so dass Investoren nicht abschätzen können, wie und wann sie Ihr Kapital abziehen oder Dividenden beziehen können.

In Chile wiederum haben vor allem Bergbauunternehmen ihre Investitionen auf Eis gelegt. Sie wollen wissen, mit welchen Rahmenbedingungen sie künftig investieren werden. Denn in der neuen Verfassung, über die am 4. September abgestimmt wird, sind deutliche Einschränkungen für Konzessionen und Abgabenerhöhungen vorgesehen. Die müssen jedoch in jedem Falle erst noch mit einfachen Gesetzen umgesetzt werden. Nach Angaben des Bergbauverbandes sind derzeit Investitionen in Höhe von 30 Mrd. Dollar blockiert.

In Brasilien wiederum warten die Investoren ab, ob es bei den Wahlen im Oktober einen Wechsel gibt. Der schlechte Ruf Brasiliens vor allem in Europa wegen der Umwelt- und Amazonaspolitik der derzeitigen Regierung von Präsident Jair Bolsonaro hält Investoren von einem größeren Engagement ab.

Schon bei den letzten Infrastrukturausschreibungen für Fernstraßen 2021 zeigte sich: Neue Investoren scheuen sich, derzeit nach Brasilien zu kommen. Lediglich bereits in Brasilien investierte Konzerne weiten ihr Engagement aus.

Plane
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Die Weichen für die Zukunft der Demokratien in Südamerika werden gerade gestellt

In Kolumbien findet mit dem Präsidentenwechsel gerade ein historischer Einschnitt statt. In Chile wird in wenigen Wochen über den Verfassungsentwurf abgestimmt. Im Oktober wählt Brasilien. Das alles sind entscheidende Ereignisse für die Zukunft der Demokratien in Südamerika.

von Alexander Busch, Lateinamerika-Korrespondent für Handelsblatt und NZZ

Südamerika steckt mitten in einem politischen Epochenwandel. Das gilt derzeit besonders für Brasilien, Chile und Kolumbien. Dort leben mit 284 Millionen Menschen rund zwei Drittel der Südamerikaner.

In Kolumbien hat mit dem Amtsantritt von Gustavo Petro letzte Woche eine neue politische Ära begonnen. Es ist der erste linke Präsident Kolumbiens nach vielen Jahren konservativer Regierungen. Der erfahrene Politiker wird beweisen müssen, dass er das gespaltene, gewalttätige Land befrieden kann.

Kolumbien ist einer der Staaten in der Region mit riesigen Problemen – von der Einkommenskonzentration über die Drogenmafias, von Korruption bis zur fehlenden Sicherheit. Es ist aber auch eines der Länder Südamerikas mit einem gewaltigen wirtschaftlichen Potenzial, sollte es Petro gelingen, die Spannungen zu reduzieren und das Land zu befrieden.

In Chile stimmt die Bevölkerung am 4. September über den neuen Verfassungsentwurf ab. Die sozialen Reformen in der neuen Charta entsprechen den Forderungen der Mehrheit der Chilenen. Die Wirtschaft sorgt der zunehmende staatliche Einfluss. Lehnen die Chilenen den Entwurf ab, könnte es erneut zu gewalttätigen Protesten kommen.

Auch wenn die Chilenen den Entwurf billigen, wird entscheidend sein, ob es der Regierung von Präsident Gabriel Boric gelingt, die Frustrationen der konservativen wie linken Gegner bei der Umsetzung der neuen Verfassung abzubauen.

Wenn er damit erfolgreich ist, dann dürfte das Experiment mit einer neuen Verfassung ein Vorbild für viele Staaten in Lateinamerika sein, in denen die Menschen mehr Rechte und Einfluss fordern. Scheitert die friedliche Verfassungsreform in Chile, dann ist das ein schlechtes Omen für die Demokratie in Südamerika.

Aber auch für Chile als Wirtschaftsstandort steht viel auf dem Spiel: Das Andenland ist eines der Länder in der Region, das über drei Dekaden einen beispiellosen Wirtschaftsboom erlebt hat. Wenn die Regierung den Verfassungsprozess mit einer hohen Akzeptanz in der Bevölkerung weiterführen kann, dann wird Chile weiter von seiner Spitzenstellung als Rohstofflieferant der Welt profitieren.

In Brasilien schließlich wählen die Brasilianer im Oktober bei allgemeinen Wahlen unter anderem auch den nächsten Präsidenten: Der Rechtspopulist Jair Bolsonaro möchte weitere vier Jahr im Amt bleiben und steht bei den Wahlpräferenzen auf dem zweiten Platz. Derzeit führt der linke Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva in den Umfragen.

Präsident Bolsonaro hält das elektronische Wahlsystem für unzuverlässig und attackiert den Obersten Gerichtshof. Ex-Präsident Lula wiederum saß wegen Korruption im Gefängnis. Das Urteil wurde im Nachhinein aus formalen Gründen für ungültig erklärt. Auch in Brasilien ist der Druck auf die Demokratie und den Rechtsstaat erstmals seit dem Ende der Diktatur 1985 stark gestiegen.

Der nächsten Regierung muss es gelingen, wieder das Vertrauen der Wirtschaft in die mit Abstand wichtigste Ökonomie des Kontinents herzustellen. Auch in Brasilien könnte eine stabile Politik kombiniert mit Reformen in kurzer Zeit einen Wachstumsboom auslösen.

Kurz: 2022 wird zum Schlüsseljahr für die politische und wirtschaftliche Zukunft Südamerikas.

Bogota
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Der Mercosur orientiert sich nach Asien

Die südamerikanische Wirtschaftsgemeinschaft Mercosur hat mit Singapur ein Freihandelsabkommen abgeschlossen und Uruguay strebt eine Freihandelszone mit China an. Einig sind sich die Mitgliedsstaaten dabei aber nicht.

von Alexander Busch, Lateinamerika-Korrespondent für Handelsblatt und NZZ

 

Nach vier Jahren Verhandlungen wollte der Mercosur letzte Woche bei seinem 60. Präsidentengipfel den Abschluss der Verhandlungen mit Singapur zu einer Freihandelszone feiern. Der Stadtstaat soll eine Art Außenposten der südamerikanischen Mitgliedsstaaten des Mercosur in Fernost werden. Unternehmen aus Singapur haben in die Infrastruktur (Flughäfen, Werften) und Basisindustrie in Südamerika investiert.

Doch das Fest fiel aus: Beim Treffen in Asunción hatte der Gastgeber Paraguay alle Mühe, zwischen den verschiedenen Interessen der Mitglieder zu vermitteln.

Beim brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro fiel das noch am leichtesten. Denn der war gar nicht erst zum Treffen erschienen – zum ersten Mal in der Geschichte des 1991 gegründeten Gruppe, die aus Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay besteht. Für sein Ausbleiben lieferte Bolsonaro keine Erklärung. Seine Absenz war aber auch keine wirkliche Überraschung: Seit Beginn seiner Amtszeit 2019 hat der brasilianische Präsident mehrfach deutlich gemacht, dass er wenig von der Wirtschaftsgemeinschaft hält.

Doch auch sonst sorgten Alleingänge für Zoff beim Gipfel: So will Uruguay an seinem Vorhaben festhalten, mit China noch in diesem Jahr ein Freihandelsabkommen zu vereinbaren. Dieses Ansinnen verfolgt das kleinste Land in der Gemeinschaft schon länger.

In der Vergangenheit konnten die großen Länder Argentinien und Brasilien das deutlich kleinere Uruguay immer wieder davon überzeugen, sich nicht gegenüber China zu öffnen. Doch nun will Uruguay unbedingt das Abkommen mit China, um von niedrigeren Importpreisen und den Investitionen aus Fernost profitieren zu können.

Die größeren Staaten in der Zone fürchten die Konkurrenz aus Fernost: Sie haben eigene Industrien und wollen ihre Märkte schützen. Es bleibt offen, wie der Mercosur als Wirtschaftsgemeinschaft weitermachen will, wenn China freien Zugang nach Uruguay bekommt.

Die Annäherung an China stellt die Wirtschaftsgemeinschaft vor ein zusätzliches Problem: Denn Paraguay ist traditionell eines der verbliebenen wenigen Länder in der Region, das weiterhin nur mit Taiwan statt mit China offiziell diplomatische Beziehungen unterhält.

Dennoch dürfte die neue Öffnungsdynamik des Mercosur in Richtung Asien anhalten: Es gibt Verhandlungen des Mercosur mit Südkorea. Die stagnieren derzeit zwar, wie auch die mit Kanada. Doch das kann sich schnell ändern, wenn neue Regierungen in Südamerika die Handelsbeziehungen des Blocks ausweiten wollen.

Denn die 2019 abgeschlossenen Abkommen des Mercosur mit der EU und der EFTA – der Freihandelsorganisation von Island, Liechtenstein, Norwegen und der Schweiz – stecken fest. Das liegt vor allem daran, dass die Europäer ein Abkommen mit Brasilien unter Präsident Bolsonaro wegen dessen Umwelt- und Amazonaspolitik ablehnen.

Gerade war eine Parlamentariergruppe der EU in Brasilien unterwegs. Sie erklärte zum Abschluss der Reise, dass sie den Druck auf Brasilien wegen der fehlgeleiteten Umweltpolitik erhöhen wolle.

Vermutlich wird dem Mercosur mittelfristig keine Alternative als die Öffnung nach Fernost bleiben.

Singapur
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In Lateinamerika sitzen Falken an den Schalthebeln der Zentralbanken

Auch in Lateinamerika gehen die Inflationsraten durch die Decke. Doch anders als sonst weltweit, scheint hier der Peak erreicht. Das liegt vor allem an den schnellen Reaktionen der Zentralbanken schon im vergangenen Jahr. Die Geldhüter reagieren so schnell, weil Inflationsängste in Südamerika bis heute allgegenwärtig sind.

von Alexander Busch, Lateinamerika-Korrespondent für Handelsblatt und NZZ

 

Auch in Lateinamerika sind wie hier die Inflationsraten in den letzten Monaten rasant gestiegen: Das gilt nicht nur für Argentinien, wo die Inflation am Jahresende deutlich über 70 Prozent betragen wird. Dort werden die Staatsausgaben zunehmend mit der Notenpresse finanziert.

Doch auch die stabileren Ökonomien – vor allem die der Andenländer – erleben rasante Teuerungsraten: In Peru, Chile und Kolumbien steigen die Preise für Lebensmittel und Energie wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Auch in Brasilien und Mexiko revidieren die Investmentbanken die Inflationsprognosen.

Dennoch ist es erstaunlich, dass die Inflationserwartungen für das Jahresende 2022 in fast allen Ländern – mit Ausnahme von Argentinien und Venezuela – im einstelligen Bereich liegen. Der Finanzdienstleister Oxford Economics schätzt, dass derzeit der Höhepunkt der Inflationsraten in Lateinamerika erreicht ist. Das wäre weit früher als etwa in Europa oder den USA.

Der Grund: Die Zentralbanken in Lateinamerika haben schon Mitte letzten Jahres mit den Zinserhöhungen begonnen, um die Inflationsraten zu bremsen.

Es scheint, als würde in Lateinamerika die immer noch präsente Erfahrung aus Inflation oder gar Hyperinflation in den vergangenen Jahrzehnten dafür sorgen, dass geldpolitische Falken an den Schalthebeln der Zentralbanken sitzen. Die Geldhüter in Lateinamerika treten schneller auf die Bremse als die in Europa oder den USA, wenn die Inflationsraten steigen.

Zum Vergleich: Die letzte Hochinflationsphase erlebten die USA vor mehr als 40 Jahren. In Lateinamerika dagegen ist die Inflation Alltag. Argentinien hat seit 2002 nur zwei Jahre mit einer Inflation unter 10 Prozent erlebt. In Buenos Aires zeigt sich, wie erfolglos Regierungen sind, denen es nicht gelingt, die Geldentwertung zu bremsen. Auch in Brasilien, Chile oder Peru sind Hochinflationsphasen und ihre negativen Folgen für Gesellschaft, Wirtschaft und Politik immer noch tief im Bewusstsein der Bevölkerung verankert.

Doch die frühen und heftigen Gegenmaßnahmen der Geldhüter haben ihren Preis: Die hohen Zinsen bremsen das Wachstum. Zwar erwartet die Investmentbank JP Morgan kaum noch Leitzinserhöhungen in diesem Jahr. Doch bis 2023 werden die Zentralbanken den harten monetären Kurs halten müssen, fürchten deren Experten.

Die Folge: Das Wachstum wird in Lateinamerika auch nächstes Jahr schwächer ausfallen – und möglicherweise sogar um die Hälfte schrumpfen gegenüber 2022 (1,3 statt 2,1 Prozent), so JP Morgan. Große Ökonomien wie Brasilien (-0,2 Prozent) und Mexiko (1,5 Prozent) werden nächstes Jahr noch weniger wachsen als 2022. Aber auch die Ökonomien mit den höchsten Wachstumsraten wie Kolumbien und Peru werden nur 2,5 Prozent zulegen.

Brasilianische Real
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Lateinamerikas Ökonomien verlieren weiter an Wettbewerbsfähigkeit

Im neuesten IMD World Competitiveness Report schneiden die sieben größten Ökonomien der Region wie erwartet schlecht ab. Weil die dortigen Märkte jedoch deutlich größer sind als die der meisten Staaten weltweit, bleiben sie interessant für ausländische Investoren.

von Alexander Busch, Lateinamerika-Korrespondent für Handelsblatt und NZZ

 

Seit 1989 publiziert das International Institute for Management Development (IMD) aus der Schweiz sein jährliches Ranking der Wettbewerbsfähigkeit von Staaten. Dazu befragt das IMD World Competitiveness Center Unternehmer, Investoren und Managerinnen in 63 Staaten weltweit nach zahlreichen Kriterien, mit denen die Wettbewerbsfähigkeit gemessen werden kann.

Lateinamerika schneidet dabei besonders schlecht ab. Bis auf Chile gehören die anderen sechs Staaten der Region zu den Schlusslichtern der untersuchten Ökonomien. Peru (54), Mexiko (55), Kolumbien (57), Brasilien (59), Argentinien (62) und Venezuela (63) schneiden schlechter ab als fast alle Standorte weltweit.

Aber auch das besser bewertete Chile ist mit Rang 45 nur im unteren Drittel des Rankings gelandet. Das Andenland ist in den letzten fünf Jahren sogar zehn Positionen im Ranking abgestiegen. Gefolgt von Argentinien und Kolumbien, die von sechs bzw. fünf Staaten überholt wurden. Insgesamt haben jedoch alle sieben größte Ökonomien Lateinamerikas in den letzten fünf Jahren Positionen verloren. Nur Venezuela ist bereits seit 2017 das Schlusslicht im IMD-Report.

Doch bei einzelnen Punkten stehen auch andere Staaten auf den Schlusspositionen im Ranking. So belegt Brasilien bei der Ausbildung seiner Arbeitskräfte den schlechtesten Platz unter 63 Staaten. Argentinien bildet das Schlusslicht bei der Unternehmerfreundlichkeit sowie der Behandlung von ausländischen Investoren.

Die rechtlichen Rahmenbedingungen für Unternehmer sind in fast allen Staaten schlecht. Die geringe Rechtssicherheit wiederum ist der entscheidende Grund, warum Investoren ihr Kapital nicht in Infrastruktur investieren. Sie fürchten, dass sich die Gesetze plötzlich ändern könnten und sie ihre Investitionen abschreiben müssen, wie das in Argentinien und Venezuela geschehen ist.

Grundsätzlich sind die Investitionen nicht nur in die Infrastruktur unterdurchschnittlich im weltweiten Vergleich. Auch in Humankapital und Technologie fällt Lateinamerika weit zurück.

Auffallend ist jedoch, dass ausländische Unternehmen und Investoren weiterhin überdurchschnittlich in der Region investieren. Das gilt vor allem für Brasilien und Mexiko, die größten Ökonomien Lateinamerikas, die rund die Hälfte der Bevölkerung und Wirtschaftskraft vereinen.

Das könnte an der Bedeutung der Binnenmärkte liegen. Betrachtet man die Marktgrößen der sieben wichtigsten Ökonomien, dann liegen sie weiterhin deutlich über dem Mittelfeld der untersuchten Staaten weltweit.

Der Schluss drängt sich auf, dass Lateinamerika vor allem wegen seiner großen Binnenmärkte für ausländische Unternehmen attraktiv bleibt – trotz der strukturellen Mängel der Region.

Wettkampf
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Wird Lateinamerika vom Abzug der US-Unternehmen aus China profitieren?

Die Hoffnungen auf positive Effekte des Nearshoring in Lateinamerika sind groß: Die Interamerikanische Entwicklungsbank erwartet, dass die Region kurz- und mittelfristig davon profitieren wird. Doch dafür müssen die Regierungen die richtigen Voraussetzungen schaffen.

von Alexander Busch, Lateinamerika-Korrespondent für Handelsblatt und NZZ

 

Die zunehmende Sorge um die Umwelt, die Pandemie, die Handelsstreitigkeiten zwischen den USA und China sowie der jüngste Einmarsch Russlands in der Ukraine haben die Wertschöpfungsketten weltweit durcheinandergewirbelt. Unternehmen in den Industrieländern überlegen, ihre Zulieferer näher bei sich anzusiedeln.

Nach Schätzungen der Interamerikanischen Entwicklungsbank (IDB) könnte Nearshoring in Lateinamerika und der Karibik kurz- und mittelfristig zu zusätzlichen Waren- und Dienstleistungsexporten in Höhe von jährlich 78 Mrd. Dollar führen. Das gilt vor allem für die Branchen Automobil, Textil, Pharma und für erneuerbare Energien.

Das wäre ein wichtiger Rückenwind für Lateinamerika: Denn die Integration in globale Wertschöpfungsketten erhöht die Produktivität der lokalen Ökonomie durch Technologie- und Wissenstransfer und schafft hochwertige Arbeitsplätze. Steigert ein Land seine weltweite Integration um 10 Prozent, dann erhöht sich das Pro-Kopf-BIP um 11 bis 14 Prozent schätzt die IDB.

Doch die Staaten müssen ihrerseits etwas dafür machen, um eine attraktive Alternative zu den Standorten in Fernost zu werden. Sie sollten in Verbesserungen des Geschäftsklimas und der Kapazitäten von Investitions- und Exportförderungsagenturen investieren. Die IDB schätzt, dass jeder Dollar, der in die Investitionsförderung investiert wird, fast 42 Dollar an ausländischen Direktinvestitionen nach sich zieht.

Die Verbesserung der Transport- und Logistikinfrastruktur ist kurzfristig entscheidend: Nach Schätzungen der IDB erhöht eine Senkung der internationalen Transportkosten um zehn Prozent den Wert der Exporte um mindestens 30 Prozent.

Zudem muss die Region muss ihre regionale Integration vertiefen: Allein die 33 existierenden bilateralen und -regionalen Handelsabkommen zwischen Nord- und Südamerika sollten harmonisiert werden. Schon dies würde zu einem Anstieg des intraregionalen Handels um fast 12 Prozent führen.

Betrachtet man das Potenzial, welches die IDB für die einzelnen Staaten Lateinamerikas errechnet hat, dann werden die größten Zuwächse im Verhältnis zur Größe der Ökonomien in Mexiko, Zentralamerika und der Karibik anfallen. Der Prozess lässt sich jetzt schon beobachten: Tatsächlich haben sich die US-Investitionen in Mexiko im Jahr 2021 verdreifacht gegenüber dem Vorjahr. Auch während der Pandemie sind die ausländischen Direktinvestitionen kaum zurückgegangen.

Doch ansonsten sieht die Realität der Auslandsinvestitionen bisher noch ganz anders aus. Nach den neuesten Erhebungen der Welthandels- und Entwicklungskonferenz UNCTAD sind die ausländischen Direktinvestitionen im letzten Jahr in Lateinamerika um 56 Prozent gestiegen, in Südamerika jedoch deutlich mehr: um 74 Prozent. Damit haben sie den Rückgang von 45 Prozent im ersten Pandemiejahr 2020 wieder neutralisiert.

Der Grund: Die ausländischen Konzerne investieren vor allem in Rohstoffe, Energie und lokale Märkte. Vor allem Brasilien hat seine ausländischen Investitionen um 78 Prozent steigern können. Es steht damit auf Platz 6 der Liste der Staaten, in die ausländische Konzerne weltweit am meisten investiert haben. Mexiko rangiert weiterhin auf Platz 10, stagniert aber.

Port of Los Angeles
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Wahlprognosen werden schwierig in Lateinamerika

Das überraschende Ergebnis der ersten Wahlrunde in Kolumbien zeigt, wie instabil die politische Lage in Lateinamerika ist. Vor allem Außenseiter haben Chancen auf einen Wahlsieg. Doch sie haben keine politische Basis und können kaum etwas von dem umsetzen, was sie versprochen haben.

von Alexander Busch, Lateinamerika-Korrespondent für Handelsblatt und NZZ

 

Seit Jahresanfang schien es für die meisten Kolumbianer als wahrscheinlich, dass der Linke Gustavo Petro im ersten Durchgang bei den Wahlen Ende Mai gewinnen würde. Bei den Parlamentswahlen zuvor hatte seine Partei große Stimmenzuwächse erlebt. Petro wäre der erste Linke an der Spitze Kolumbiens.

Doch es kam anders: Zwar gewann Petro die erste Runde der Wahlen mit einer deutlichen Mehrheit von 40 Prozent der Stimmen. Dennoch ist es heute wenig wahrscheinlich, dass er der nächste Präsident Kolumbiens wird.

Denn der parteilose Unternehmer und Ex-Bürgermeister Rodolfo Hernández hat überraschend 28 Prozent der Stimmen gewonnen. Der drittplatzierte Kandidat aus dem konservativen Lager hat seine Wähler bereits aufgefordert, Hernández zu wählen. Damit hat der weitgehend unbekannte 77-jährige Populist Hernández rein rechnerisch 52 Prozent der Stimmen – und nun gute Chancen der nächste Präsident des Landes zu werden.

Das sind keine guten Nachrichten: Denn Hernández hat keinerlei politische Basis im Kongress und ein konfuses politisches Programm. Kolumbien ist ein Land voller komplizierter politischer, sozialer und wirtschaftlicher Probleme und bräuchte eigentlich jemand an der Spitze des Landes, der Allianzen schmieden kann zwischen den politischen Lagern.

Damit wiederholt sich in Kolumbien nur das, was in den Andenländern bereits bei den letzten Wahlen passiert ist: In Peru gewann der völlig unbekannte Dorfschullehrer Pedro Castillo vor einem Jahr knapp die Wahlen. Seitdem zeigt er sich dem Amt wenig gewachsen und hat schon mehrfach sein Kabinett gewechselt. Es ist unwahrscheinlich, dass er seine Amtszeit bis zu Ende regieren wird.

In Chile hat ebenfalls der Rechtsaußenpolitiker José Antonio Kast überraschend den ersten Wahlgang gewonnen und nur in den Stichwahlen gegen den ehemaligen Studentenführer Gabriel Boric verloren. Sowohl Boric wie Kast sind keine politischen Außenseiter. Sie gehören jedoch nicht den traditionellen Parteien Chiles an.

Vereinfachend lässt sich sagen, dass bei all diesen Wahlen diejenigen überraschend den größten Erfolg hatten, die am weitesten vom politischen Establishment entfernt standen. Das Problem für ihre Regierungen ist jedoch nun, dass sie alle eine schwache Basis in ihren Parlamenten haben und deswegen wenig umsetzen können von dem, was sie vorher versprochen haben. Darum haben Boric und Castillo rasant an Popularität verloren.

Für Lateinamerika bedeutet das: Die politische Lage wird unvorhersehbar und instabiler.