Weiterhin gibt es viele Demokratien in Lateinamerika, deren Qualität nimmt jedoch ab
Nach Europa und Nordamerika bleibt Lateinamerika die Region mit der höchsten Demokratiedichte weltweit. Doch vor allem die fehlende Sicherheit führt dazu, dass autoritäre Regierungen toleriert werden.
von Alexander Busch, Lateinamerika-Korrespondent für Handelsblatt und NZZ
Seit acht Jahren verlieren die Demokratien in Lateinamerika stetig weiter an Qualität. Letztes Jahr stieg die Region weltweit am stärksten ab unter den Kontinenten auf dem Demokratie-Index der Economist Intelligence Unit (EIU). In zwei Drittel der 24 vom Institut erfassten Staaten nahmen die Defizite der Demokratie zu.
Trotzdem bleibt Lateinamerika nach Nordamerika und Europa die Nummer 3 unter den Kontinenten mit der höchsten Zahl an Demokratien. Diesen Widerspruch erklären die Experten damit, dass Lateinamerika und die Karibik im weltweiten Vergleich gute Wahlverfahren, eine hohe politische Partizipation und die meisten bürgerliche Freiheiten haben – jedoch die schlechteste Bewertung für die politische Kultur und die Funktionalität der Regierungen.
Die größten Rückschritte erlebten mittelamerikanische Staaten El Salvador, Guatemala, Nicaragua und Haiti. Heute leben neun Prozent der 240 Millionen Menschen in der Region in Diktaturen. Zu Kuba, Venezuela, Nicaragua zählen die Experten vom EIU auch den Karibikstaat Haiti. Nicaragua und Venezuela rangieren heute auf dem Demokratie-Niveau von Russland.
Nur rund ein Prozent der Menschen in Lateinamerika leben in entwickelten Demokratien. Das sind die Bürger in Costa Rica und Uruguay. Das lange Zeit ebenfalls vom EIU als vollständige Demokratie gewertete Chile ist zu einer „lückenhaften Demokratie“ („flawed democracy“) abgestiegen. EIU macht dafür vor allem den wachsenden Einfluss von nicht gewählten Experten im demokratischen Prozess verantwortlich.
Mehr als die Hälfte (54 Prozent) der Bürgerinnen und Bürger Lateinamerikas leben in mangelhaften Demokratien. Darunter sind die bevölkerungsreichen Staaten wie Brasilien, Argentinien und Kolumbien. Mexiko stuft das EIU als eine „hybride Demokratie“ ein, wo die Demokratie auch autoritäre Elemente enthält.
Nur in drei Staaten haben demokratische Elemente zugenommen – wenn auch auf niedrigem Niveau: In Paraguay, der Dominikanischen Republik und Venezuela verbesserten sich die Kennzahlen.
Uruguay ist erneut der Spitzenreiter in der Region und steht im weltweiten Index auf Platz 14, also etwa dem gleichen Niveau wie Australien oder Japan. Costa Rica (17) rangiert vor Österreich und deutlich vor Spanien oder Frankreich.
Als die größte Bedrohung der Demokratien in Lateinamerika sieht der EIU die wachsenden Sicherheitsprobleme in der Region. Die Bevölkerungen in den Staaten tolerieren zunehmend autoritäre Regierungen, die auf die fehlende Sicherheit mit dem Abbau von Grundrechten reagieren. Beispiel dafür ist El Salvadors Präsident Nayib Bukele, der dabei ist, sein Land in eine Diktatur zu verwandeln – und von rund 80 Prozent der Bevölkerung dabei unterstützt wird. In Ecuador ist Präsident Daniel Noboa dabei, den gleichen Weg zu gehen.
Dieser Trend könnte sich in Lateinamerika verstärken, fürchtet EIU: Drei der zehn gefährlichsten Staaten weltweit befinden sich in der Region. Das sind Mexiko, Brasilien und Kolumbien. Sechs von zehn Staaten, in denen die Bevölkerung die fehlende Sicherheit als größtes Problem einschätzt, sind in Lateinamerika.
Ein Vorteil in Lateinamerika ist, dass es keine Kriege zwischen den Staaten gibt. „Bisher“ schreibt EIU und verweist auf die angedrohte Besetzung großer Teile Guyanas durch Venezuela.
Problematisch ist, dass die Wahlkämpfe zunehmend gewalttätiger werden, wie zuletzt in Ecuador und derzeit Mexiko.