Fliegt Südamerika unter Washingtons Radar?

Für fast alle Staaten Südamerikas hat Trump „nur“ den reziproken Mindestzoll von 10 Prozent verhängt. Was ist der Grund dafür und welche Folgen könnte das für die Region haben?

von Alexander Busch, Lateinamerika-Korrespondent für Handelsblatt und NZZ

 

Südamerika atmet auf. Donald Trump hat an seinem „Tag der Befreiung“ die südamerikanischen Staaten bei seiner Zollerhöhungsoffensive nur mit den niedrigsten Importzöllen bedacht. Mit Ausnahme von Venezuela werden die Importe aller Staaten „nur“ um zehn Prozent erhöht.

Davon ausgenommen sind die bereits erfolgten Zollerhöhungen für Stahl und Aluminium. Auch für Mexiko gelten ab sofort die bereits vor einigen Wochen angekündigten Importzölle von 25 Prozent.

Warum Südamerika im Vergleich zu den Schwellenländern aus Südostasien vergleichsweise glimpflich davon kommt – darüber lässt sich nur spekulieren. Ein Blick in die Handelsbilanzen hilft weiter: Mit allen großen Volkswirtschaften Südamerikas erzielen die USA Handelsüberschüsse. Es gibt also keinen rationalen Grund, südamerikanische Exporte mit Importzöllen zu belegen, wenn man – wie Trump offensichtlich – Außenhandelsdefizite abbauen will und diese negativ bewertet.

Anders verhält es sich mit Mexiko. Das Land, das mit den USA und Kanada zunächst durch NAFTA und ab 2020 durch das Nachfolgeabkommen USMCA (United States-Mexico-Canada Agreement) verbunden ist, verzeichnet nach China den größten Handelsüberschuss mit den USA.

Dies bedeutet jedoch nicht, dass Südamerika aufgrund seiner Handelsdefizite mit den USA in Zukunft von Trumps Vergeltungspolitik verschont bleiben wird – dafür ist es noch zu früh und Trump zu unberechenbar.

Dennoch könnte die unerwartet entspannte Haltung des US-Präsidenten gegenüber Südamerika darauf hindeuten, dass Trump den südlichen Teil des amerikanischen Kontinents im Sinne der Monroe-Doktrin als zu den USA gehörig betrachtet.

Danach erklärten die USA vor rund 200 Jahren, dass sie Lateinamerika kontrollieren und dort keine ausländischen Mächte dulden würden.

Nach dem Ende des Kalten Krieges geriet die Monroe-Doktrin in Vergessenheit. Doch schon unter der ersten Trump-Administration erklärten enge Mitarbeiter wie Sicherheitsberater John Bolton oder der CIA-Direktor und spätere Außenminister Mike Pompeo, dass die Monroe-Doktrin wieder gelte.

Eine Bestrafung Südamerikas mit hohen Zöllen würde die Region aber in die Arme anderer Handelspartner – und vor allem Chinas – treiben. Die wachsenden chinesischen Investitionen in Bergbau, Stromnetze, Telekommunikation und Infrastruktur werden in Washington kritisch beobachtet.

So schlug Mauricio Claver-Carone, Sonderbeauftragter des US-Außenministeriums für Lateinamerika, vor, Produkte, die über den von China finanzierten Hafen Chancay in Peru in die USA gelangen, mit einem Zoll von 60 Prozent zu belegen.

Es bleibt jedoch abzuwarten, welche Auswirkungen die erhöhten US-Zölle auf die Weltwirtschaft und damit indirekt auch auf den Außenhandel in Südamerika haben werden.

Südamerikanische, aber auch mexikanische Agrarproduzenten hoffen beispielsweise darauf, dass die ostasiatischen Staaten und China ihre Nahrungsmittelimporte aus Südamerika erhöhen, da sie ebenfalls Zölle auf Agrarexporte aus den USA erheben könnten.

In der ersten Trump-Administration konnten die lateinamerikanischen Landwirte ihre Exporte nach Asien deutlich steigern.

Positiv könnte auch sein, dass lateinamerikanische Konzerne nun ihre Wertschöpfungsketten von Mexiko nach Argentinien ausdehnen. Bislang galt die mexikanische Wirtschaft in Südamerika als eine Region, die sich vor allem auf Nordamerika konzentriert und die südlichen Nachbarn vernachlässigt. Das könnte sich nun ändern.

Auf der anderen Seite fürchten lateinamerikanische Industrie- und Konsumgüterunternehmen, dass asiatische Konkurrenten nun versuchen könnten, ihre in den USA blockierten Exporte in andere Regionen umzuleiten – das wachsende Lateinamerika böte sich dafür als Binnenmarkt mit einer ähnlich hohen Bevölkerungszahl wie Südostasien an.

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Macht Trump Ernst gegenüber dem wichtigsten Handelspartner Mexiko?

Auch wenn er seine Zollpolitik noch ändern wird, der Schaden ist bereits angerichtet: Investoren sind verunsichert und werden ihre Investitionen in dem Land zurückfahren. Das trifft vor allem auch deutsche Unternehmen.

von Alexander Busch, Lateinamerika-Korrespondent für Handelsblatt und NZZ

 

Donald Trump zieht seine Abschottungspolitik durch, wie er es angekündigt hat: Jetzt hat er Importzölle für Mexiko (und Kanada) auf 25 Prozent angekündigt. Die Erhöhung für Mexiko soll erst ab dem 2. April gelten. Das dürfte die mexikanische Wirtschaft in diesem Jahr in die Rezession treiben. Auch in den USA werden die Zölle die Inflation beschleunigen und das Wachstum bremsen.

Denn Mexiko ist der wichtigste Handelspartner der USA. Seit mehr als 30 Jahren sind die USA und Mexiko zusammen mit Kanada durch Freihandelsabkommen miteinander verbunden.

Zunächst war es das 1994 geschlossene Nafta-Abkommen, das Nordamerikanische Freihandelsabkommen, das den Handel und den Ausbau der Wertschöpfungsketten in Nordamerika vorangetrieben hat. Seit 2020 ist das Nachfolgeabkommen USMCA (United States-Mexico-Canada Agreement) in Kraft, das im kommenden Jahr einer Revision unterzogen werden soll.

Dank dieser institutionellen Handelsabkommen ist Mexiko seit 2023 der wichtigste Handelspartner der USA – noch vor China. Im vergangenen Jahr exportierte Mexiko Waren im Wert von 506 Milliarden US-Dollar in die USA. Zum Vergleich: Die Exporte deutscher Unternehmen in die USA beliefen sich im vergangenen Jahr auf 161 Milliarden Euro.

US-Unternehmen wiederum exportierten Waren im Wert von 335 Milliarden Dollar nach Mexiko. Das Handelsbilanzdefizit (171 Milliarden Dollar) ist damit fast dreimal so hoch wie das mit Kanada.

Die Handelsbilanzen sagen allerdings wenig über die intensive Verflechtung der Unternehmen aus: Hunderte von US-Konzernen produzieren seit Jahrzehnten in Mexiko – von Konsumgüterherstellern im Lebensmittelbereich bis zu Hightech-Konzernen in der Raumfahrt.

Am weitesten fortgeschritten ist die Arbeitsteilung in der Automobilindustrie. Das bedeutet, dass ein Auto während seiner Produktion mehrmals zwischen den Werken in Mexiko und den USA hin- und hertransportiert wird, bevor es vom Band rollt.

Die deutsche Industrie ist von dieser Arbeitsteilung besonders betroffen. Nach Angaben der Deutschen Bundesbank haben deutsche Konzerne seit der Jahrtausendwende zwischen 15 und 20 Milliarden US-Dollar in Mexiko investiert. Damit ist Mexiko nach Brasilien der wichtigste Empfänger deutscher Direktinvestitionen in Lateinamerika.

Dort gibt es mehr als 2000 Unternehmen mit deutscher Kapitalbeteiligung. Auch die mexikanischen Niederlassungen deutscher Konzerne exportieren den Großteil ihrer Produktion in den Norden. Entsprechend hoch entwickelt sind die Produkte im Vergleich zu den südamerikanischen Standorten, wo meist der lokale Markt das Ziel ist.

Mit der US-Zollpolitik wird sich nun der Durchschnittspreis eines in Mexiko gefertigten Pkw in den USA um rund 6.000 Dollar erhöhen. Ein SUV, also ein Stadtjeep, könnte jetzt 8000 Dollar mehr kosten. Nun hat die Regierung angekündigt, dass sie US-Konzerne von den Zöllen ausnehmen will. Wie und ob das umzusetzen ist, bleibt jedoch offen.

Es liegt auf der Hand, dass die Maßnahmen auch der US-Wirtschaft großen Schaden zufügen werden. Die US-Börse reagierte negativ, die Inflationserwartungen stiegen, die Wachstumsaussichten verdüsterten sich.

US-Handelsminister Howard Lutnick versuchte nach der Ankündigung der Zollerhöhungen zu beschwichtigen, er stehe in ständigem Kontakt mit den „Partnerländern“.

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Wachstumsaussichten in Lateinamerika bleiben stabil

Wegen Trump wird die Region versuchen, die Beziehungen zu anderen Partnern auszubauen. Davon wird vor allem China profitieren, aber auch für Europa eröffnet sich eine historische Chance, die Zusammenarbeit zu stärken.

von Alexander Busch, Lateinamerika-Korrespondent für Handelsblatt und NZZ

 

Selten waren Konjunkturprognosen für Lateinamerika so schwierig wie in diesem Jahr. Einen Vorgeschmack bekam Mexiko, als der US-Präsident eine Importsteuer von 25 Prozent auf Einfuhren aus dem südlichen Nachbarland ankündigte.

Die mexikanische Wirtschaft würde sofort in eine Rezession rutschen, die mindestens bis Ende 2026 andauern könnte, schätzte die Ratingagentur S&P. 80 Prozent der mexikanischen Exporte gehen in die USA. Rund 4,5 Prozent der Wirtschaftskraft hängen von den Überweisungen der geschätzten 37 Millionen Mexikaner in den USA ab.

Allerdings muss man den Unsicherheitsfaktor Trump in Lateinamerika regional relativieren. Während die Karibik, Zentralamerika und Mexiko stark von den Dekreten der neuen Regierung abhängen und die Aussichten entsprechend unsicher sind, gilt dies für Südamerika weit weniger.

Die Rohstoffexporteure der Region wie Argentinien, Brasilien oder auch Chile und Peru sind kaum vom nordamerikanischen Absatzmarkt abhängig. Im Gegenteil: Unter der ersten Trump-Administration (2017-2021) profitierten die südamerikanischen Rohstoffökonomien von steigenden Exporten nach China. Dort ersetzten sie US-Exporte, die aufgrund der chinesischen Sanktionen gegen nordamerikanische Importe ausfielen.

Einen ähnlichen Substitutionseffekt schließen die meisten Beobachter derzeit aus, da auch China aufgrund seiner wirtschaftlichen Stagnation die Importe von Erzen, Metallen und Agrargütern kaum steigern dürfte.

So sind die Aussichten für die lateinamerikanischen Volkswirtschaften – sieht man einmal vom Trump-Effekt ab – durchaus stabil: 2,2 Prozent wird die Region in diesem Jahr wachsen, schätzt JP Morgan, etwas mehr als im Vorjahr.

Das leichte Plus ist vor allem Argentinien zu verdanken, das unter Präsident Javier Milei in diesem Jahr erstmals wieder deutlich wachsen könnte (5,5 Prozent). Auch für Kolumbien (2,5 Prozent) und Ecuador (1,5 Prozent) erwartet die Investmentbank ein stärkeres Wachstum als im Vorjahr. Angesichts der schwierigen politischen Rahmenbedingungen in diesen Ländern sind diese Prognosen jedoch mit Vorsicht zu genießen.

In den anderen großen Volkswirtschaften fällt das Wachstum im Vergleich zu 2024 schwächer aus. Keine der sechs großen Ökonomien Lateinamerikas wird jedoch stagnieren oder gar in eine Rezession abrutschen.

Die neue Regierung in Washington und die damit verbundene Unsicherheit werden die Regierungen der Region aber veranlassen, sich nach neuen Handelspartnern umzusehen.

Vor allem für China ist Trumps schwer vorhersehbarer Kurs gegenüber Lateinamerika eine Steilvorlage. 2024 hat China seine Kooperation in Südamerika strategisch ausgebaut: Peking hat Argentinien Kredit gewährt, in Peru einen der größten Häfen des Kontinents eröffnet und mit Brasilien ein großes Investitions- und Kooperationspaket verabschiedet.

Damit kann China sein Engagement in Südamerika nahtlos intensivieren. Die Staaten werden chinesische Investitionen in die Infrastruktur begrüßen, wenn sich andere Investoren wie die USA zurückziehen oder Europa mit seinen eigenen Krisen beschäftigt ist.

In der zweiten Jahreshälfte bietet der BRICS-Gipfel in Brasilien ein politisches Forum, das China nutzen wird, um seine neue Verbundenheit mit Südamerika zu demonstrieren. Gut möglich, dass die USA auf eine solche Machtdemonstration in ihrer Einflusssphäre mit Sanktionen reagieren. Diese würden vor allem Brasilien treffen.

Für Europa bietet der mögliche Konfrontationskurs der USA gegenüber Lateinamerika eine historische Chance, sich als verlässlicher Partner ins Spiel zu bringen. Die Aussichten für eine Wiederbelebung des EU-Mercosur-Abkommens haben sich verbessert – trotz aller politischen Unsicherheiten, die die Verwirklichung der biregionalen Wirtschaftsgemeinschaft sowohl in Europa als auch in Südamerika weiterhin behindern könnten.

Europa sollte diese Chance nutzen und massiv in die Beziehungen zu Lateinamerika investieren – im wörtlichen wie im übertragenen Sinne.

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Argentinien ist Südamerikas Erfolgsgeschichte des Jahres

Präsident Milei hat das Land in einer schweren Krise stabilisiert. Nun muss er seinen Reformkurs fortsetzen. Für Südamerika wäre eine weitere Erholung der zweitgrößten Volkswirtschaft des Kontinents wichtig.

von Alexander Busch, Lateinamerika-Korrespondent für Handelsblatt und NZZ

 

Vor genau einem Jahr trat der politische Quereinsteiger Javier Milei sein Amt als Präsident Argentiniens an.

Man kann ohne Übertreibung sagen: Milei hat es geschafft, dass Argentinien und seine Politik international wieder beachtet werden. Die Politik des Libertären polarisiert viele Menschen weltweit. Inzwischen ist „Milei“ als Schlagwort sogar Teil des Wahlkampfes in Deutschland geworden.

Mileis Bilanz nach einem Jahr kann sich sehen lassen:

Inflation gesenkt

Es ist gelungen, die Inflation deutlich zu senken. Statt über 20 Prozent im Monat liegt sie jetzt bei knapp drei Prozent. Läuft alles nach Plan, könnte die Jahresinflation Ende nächsten Jahres auf 25 Prozent gesunken sein. Für argentinische Verhältnisse ist das wenig.

Staatshaushalt im Plus

Zudem erwirtschaftet die Regierung im Staatshaushalt keine Defizite mehr, sondern Überschüsse. Damit ist die Wurzel der jahrzehntelangen Inflation gekappt. Erreicht hat Milei dies durch Kürzungen der Staatsausgaben um – je nach Schätzung – bis zu 30 Prozent: Entlassungen von Staatsangestellten, Rentenkürzungen, die Streichung von Transferzahlungen an die Provinzen waren die entscheidenden Maßnahmen, um den Haushalt in die schwarzen Zahlen zu bringen.

Deregulierung vorangetrieben

Dazu werden Gesetze, welche die Wirtschaft und den Alltag der Argentinier belasten, abgeschafft oder geändert. Viele aus ihrer Sicht überflüssige Behörden und Ministerien wurden geschlossen. So will die Regierung die schwache Produktivität der Wirtschaft und der öffentlichen Verwaltung steigern. Dabei geht sie nach einem detailliert ausgearbeiteten Plan vor.

 

Das Reformprogramm hat Mileis Popularität nicht geschadet. Die Regierung hat die gleichen Zustimmungs- und Ablehnungswerte wie bei den Wahlen vor einem Jahr. Das ist besser als bei den Vorgängerregierungen. Mit der Stabilität ist das Vertrauen gewachsen, dass es 2025 besser wird. Die Armutsrate, die in diesem Jahr um elf Prozentpunkte gestiegen ist, beginnt wieder zu sinken.

Der Start war also beachtlich. Viele hatten damit gerechnet, dass sich der oft aggressiv auftretende Ökonom nur wenige Monate in der Casa Rosada halten würde.

Die Regierung Milei muss nun ihr Reformprogramm fortsetzen. Kurzfristig hat sie einige drängende Probleme zu lösen:

Hohe Preise

Zum einen ist Argentinien in den vergangenen zwölf Monaten zum teuersten Standort Südamerikas geworden. Das gefährdet die Industrie, die gegenüber den ausländischen Wettbewerbern kaum noch konkurrenzfähig ist – im Inland ebenso wie auf den Exportmärkten oder im Mercosur. Auch lokale Dienstleister (Tourismus, Rechenzentren) leiden unter den hohen Preisen.

Kaufkraft steigern durch neue Jobs

Zudem müssen schnell neue Arbeitsplätze geschaffen werden, um die Kaufkraft der Bevölkerung und die Zustimmung zur Regierung zu erhöhen.

Kapitalverkehrskontrollen abschaffen

Entscheidend für Investoren wird aber sein, dass die Regierung im kommenden Jahr die Kapitalverkehrskontrollen schrittweise lockert und schließlich ganz aufhebt. Denn Investoren zögern, ihr Kapital ins Land zu bringen, wenn sie bei einer Abwertung Wertverluste erleiden könnten. Außerdem wollen ausländische Investoren Kapitalerträge und Dividenden zurückführen können.

 

Ein stabiles Argentinien ist wichtig für Südamerika. Die vielen Krisen der letzten Jahre haben vergessen lassen, dass das Land die zweitgrößte Volkswirtschaft des Kontinents ist. Ein führungsloses, chaotisches Argentinien wie in den letzten Jahren belastet Südamerika als Standort und Handelspartner.

Wenn das Land wieder Investitionen und Aufmerksamkeit auf sich zieht, stärkt das auch die Bedeutung des Mercosur. Die Widerstände in der EU gegen das Abkommen mit dem Staatenbund dürften geringer werden, wenn Argentinien wieder als vollwertiger Handelspartner auftreten kann.

Man kann also nur hoffen, dass Milei mit seinem Reformkurs auch weiterhin Erfolg haben wird.

Caminito, Buenos Aires, Argentinien
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Infrastruktur Brasiliens im Aufwind

Investoren zeigen überraschend großes Interesse an neuen Konzessionen. Die Regierung will nun den Anteil privater Beteiligungen an ihnen erhöhen.

von Alexander Busch, Lateinamerika-Korrespondent für Handelsblatt und NZZ

 

Nach langem Stillstand kommt plötzlich Bewegung in Brasiliens Infrastruktursektor. Bei den Ausschreibungen der vergangenen Tage gab es erstmals seit Jahren wieder lebhafte Bieterrunden. Dabei ging es unter anderem um die Anbindung von zwei wichtigen Fernstraßen aus den Agrargebieten nach São Paulo und zu den Atlantikhäfen. 14 Unternehmen und Investmentfonds boten mit und trieben die Agios deutlich in die Höhe. Die Unternehmen verpflichteten sich, rund 3,6 Mrd. Euro in den Ausbau der Fernstraßen zu investieren.

Das ist erst der Anfang. Die Regierung will vor allem die privaten Investitionen in Straßen, Bahnkonzessionen und Kanalisation erhöhen. 35 Ausschreibungen für Fernstraßen will die Regierung in ihrer Amtszeit bis Ende 2026 versteigern. Hinzu kommen fünf Eisenbahnverbindungen.

Das große Interesse überrascht. Denn Brasiliens Infrastruktursektor entwickelte sich fast ein Jahrzehnt lang wegen des Korruptionsskandals Lava Jato weit unter seinem Potenzial. Die damals beteiligten Baukonzerne fielen als Investoren aus. Pandemie und politische Turbulenzen sorgten für eine weitere Phase der Zurückhaltung privater Konzerne.

Doch jetzt haben sich die Rahmenbedingungen geändert: Mit dem neuen Ausschreibungsgesetz von 2021 (Nova Lei de Licitações e Contratos, kurz NLLC) wurden die Konzessionen modernisiert. Sie sind transparenter, nachhaltiger und der Staat übernimmt deutlich höhere Risiken als bisher.

Hinzu kommt, dass der Regierung von Präsident Luiz Inacio Lula da Silva kaum Mittel zur Finanzierung staatlicher Infrastrukturprojekte zur Verfügung stehen. Finanzinvestoren erwarten jetzt Kürzungen bei den Staatsausgaben – keine weiteren Erhöhungen.

Das Haushaltsdefizit Brasiliens ist seit Lulas Amtsantritt Anfang vergangenen Jahres um rund zehn Prozentpunkte von 72 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) gestiegen. Investoren verlangen bereits hohe Zinsaufschläge, um Brasilien Geld zu leihen. Der Leitzins liegt bei astronomischen 10,75 Prozent – keine gute Voraussetzung für langfristige Investitionen.

Gleichzeitig investiert Brasilien weniger als die Hälfte dessen, was nötig wäre, um nur die bestehende Infrastruktur zu erhalten. Statt 4-5 Prozent des BIP fließen weniger als 2 Prozent in den Sektor, so die Experten der Beratungsfirma InterB.

Um die Investitionslücke zu schließen, setzt die Regierung nun vor allem auf privates Kapital. Die staatliche Entwicklungsbank BNDES will den Anteil privater Konzessionäre bei Ausschreibungen durch Finanzierungen auf 75 Prozent erhöhen. In diesem Jahr übertrifft der Anteil privater Investitionen in die Infrastruktur erstmals den der öffentlichen Hand.

Es ist davon auszugehen, dass bald auch neue ausländische Konzerne auf den Plan treten: Denn je mehr Projekte in der Pipeline sind, desto eher lassen sich die Kosten für teure Beteiligungen an Ausschreibungen verteilen. Zudem treten vor allem brasilianische Investmentfonds als neue Akteure auf.

Vieles deutet darauf hin, dass Brasilien vor einer neuen Welle von Infrastrukturinvestitionen steht. Für die Gesamtwirtschaft wäre das ein gutes Zeichen: Denn die Transportkosten sind derzeit der größte Kostenfaktor für die Exportwirtschaft.

Brasilien Landstraße
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Brasiliens neue Neutralität als Chance für Europa

Das Land justiert derzeit seine Position in der Weltpolitik neu. Seine geopolitische Neutralität könnte zum strategischen Vorteil für den wichtigsten Investitionsstandort der deutschen Wirtschaft in Südamerika werden.

von Alexander Busch, Lateinamerika-Korrespondent für Handelsblatt und NZZ

 

Brasiliens Diplomatie ist in diesen Tagen gefordert. Innerhalb eines Monats finden mehrere wichtige Treffen statt, bei denen das Land deutlich machen muss, welche Position es in der Weltpolitik und damit auch in der Weltwirtschaft anstrebt.

Die Ereignisse sind hochkarätig: Den Auftakt macht der BRICS+-Gipfel in Russland – das erste Treffen nach der Erweiterung des Staatenbundes. Das APEC-Forum (Asia-Pacific Economic Cooperation) vom 10. bis 16. November in Peru ist wichtig für die künftige Anbindung Brasiliens in Südamerika und an den asiatischen Markt. Beim G20-Gipfel in Rio de Janeiro (18.-19. November) ist Brasilien Gastgeber. Unmittelbar danach besucht der chinesische Staatschef Xi Jinping Brasilien anlässlich des 50-jährigen Jubiläums der brasilianisch-chinesischen Beziehungen.

Es ist davon auszugehen, dass Brasilien bei diesen Anlässen versuchen wird, eine geopolitisch neutrale Position zu demonstrieren, vergleichbar mit der Rolle eines blockfreien Staates. Angesichts der zunehmenden Verschärfung der weltpolitischen Konfrontationen ist dies ein schwieriges Unterfangen – und wird viele enttäuschen, die von Brasilien eine klare weltpolitische Lagerzuordnung erwarten.

So hat die brasilianische Regierung mit ihrer Parteinahme für Russland, Venezuela und Palästina in den USA und Europa Sympathien verspielt. Der von Brasilien und China gemeinsam vorgelegte „Friedensplan“ für die Ukraine, der vor allem russische Interessen berücksichtigt, hat die Zweifel im demokratischen Westen noch verstärkt.

Gleichzeitig hat sich Brasilien aber bisher den Umarmungsversuchen Chinas widersetzt. Peking drängt Brasilien zur Unterzeichnung eines Seidenstraßen-Abkommens, um chinesischen Investoren besseren Zugang zu verschaffen. Doch Brasília will Technologiezugang und verlässliche Investitionszusagen, die China bisher weder angeboten hat noch garantieren will.

Zudem verhandelt Brasilien mit China aus einer Position der Stärke: China ist zwar Brasiliens größter Handelspartner. China ist aber gerade wegen der Konfrontation mit den USA auf Nahrungsmittel- und Ölimporte aus Brasilien angewiesen.

Inwieweit es Brasilien in Zukunft gelingen wird, weltpolitisch „neutral“ zu bleiben, entscheidet sich nicht nur in Brasília, sondern auch mit der politischen Entwicklung etwa in Washington und Peking in den nächsten Jahren.

In Europa sollten wir das brasilianische Streben nach Äquidistanz zu den neuen und alten Machtblöcken aber auch als Chance begreifen. Aus drei Gründen:

Erstens: Brasiliens Neutralität könnte sich bei einer Verschärfung des Kräftemessens zwischen neuen und alten Großmächten als positiver Standortfaktor erweisen. Brasilien wird versuchen, weiterhin mit der ganzen Welt Handel zu treiben und im Gespräch zu bleiben. Europäische Unternehmen sollten dies bei der Reorganisation ihrer Wertschöpfungsketten unter dem Stichwort „Nearshoring“ berücksichtigen.

Zweitens: Brasilien wird als Exporteur in der Weltwirtschaft wichtiger: Das Land wird als Produzent und globaler Lieferant von Nahrungsmitteln, Industrierohstoffen sowie konventioneller und nachhaltiger Energie an Bedeutung gewinnen.

Drittens: Und nicht zuletzt: Brasilien ist wie die wirtschaftlich wichtigsten Staaten Südamerikas eine Demokratie. Es gibt keine Anzeichen, dass sie dies ändern wollen.

Vor diesem Hintergrund wäre der Abschluss des EU-Mercosur-Abkommens umso wichtiger, denn es wäre eine Win-Win-Situation für beide Seiten. Beide Regionen würden ihr geopolitisches Gewicht durch die Gründung der größten Wirtschaftsgemeinschaft der Welt deutlich erhöhen. Dies sollte sowohl im Interesse Südamerikas als auch Europas sein.

Brasília
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Brasiliens Kreditwürdigkeit steigt: Hochstufung durch Moody’s überrascht

Trotz steigender Staatsverschuldung nähert sich Lateinamerikas größte Volkswirtschaft dem Investmentgrade – ein gutes Zeichen für die gesamte Region

von Alexander Busch, Lateinamerika-Korrespondent für Handelsblatt und NZZ

 

Die Nachricht am 1. Oktober überraschte den Finanzmarkt in São Paulo: Erstmals seit acht Jahren hat die Ratingagentur Moody’s das Länderrisiko Brasiliens heraufgestuft. Mit Ba1 fehlt Brasilien nur noch ein Upgrade, um den 2015 verlorenen Investmentgrade wiederzuerlangen.

Ein Investmentgrade ist für ein Schwellenland wie Brasilien wichtig, weil es institutionellen Anlegern wie Pensionsfonds ermöglicht, in Anleihen oder Fonds des Landes zu investieren. Die Kreditaufnahme wird dadurch einfacher und billiger.

Auch Unternehmen und Banken, die sich international finanzieren wollen, profitieren von einem besseren Länderrating. Nach der Heraufstufung durch Moody’s verbesserte die Agentur auch die Ratings zahlreicher brasilianischer Konzerne und Banken.

Die Verbesserung der Kreditwürdigkeit Brasiliens kam überraschend, da fast alle Investmentbanken und Ökonomen der Meinung sind, dass Brasiliens Haushaltsdefizit zu groß ist und die Verschuldung daher zu schnell steigen wird. Kaum jemand erwartet, dass die Regierung ohne Berücksichtigung der Zinszahlungen einen ausgeglichenen oder gar positiven Haushalt erreicht.

Ein solcher Primärüberschuss wäre aber notwendig, um den Finanzmärkten ein Signal zu geben, dass die Verschuldung wieder sinken wird. Andernfalls sind weitere Zinserhöhungen notwendig, um Investoren zu überzeugen, Brasilien Geld zu leihen. Schon jetzt liegt der Leitzins bei hohen 10,75 Prozent.

Tatsächlich ist die Staatsverschuldung Brasiliens seit Beginn der aktuellen Regierung um fast zehn Prozentpunkte gestiegen. Fitch Rating etwa befürchtet, dass die Verschuldung im kommenden Jahr auf 84 Prozent des Bruttoinlandsprodukts BIP steigen könnte (von 72 Prozent Anfang 2023).

Doch Moody’s lässt sich von solchen Befürchtungen nicht beeindrucken. Für die Agentur ist vor allem das nun schon im dritten Jahr besser als erwartete Wachstum der Grund dafür, dass Brasilien dank höherer Steuereinnahmen seine Schulden zurückzahlen kann. Auch die Reformen der letzten Jahre (wie die Autonomie der Zentralbank, die Rentenreform oder strengere Corporate-Governance-Regeln für Staatsunternehmen) haben die Produktivität Brasiliens erhöht.

Das ist ein überraschend gutes Zeugnis für die Wirtschafts- und Finanzpolitik der Regierung. Zumal Moody’s nicht nur das Rating verbessert, sondern auch einen positiven Ausblick gegeben hat.

Moody’s ist nun optimistischer als die beiden anderen großen Ratingagenturen. Standard & Poor’s und Fitch bewerten das Land mit BB, zwei Stufen unter Investment Grade, der Ausblick ist bei beiden stabil.

Unter den sechs größten Volkswirtschaften Lateinamerikas ist Brasilien derzeit neben Argentinien das einzige Land ohne Investmentgrade-Rating. Chile, Mexiko, Peru und Kolumbien haben das Gütesiegel der Agenturen.

Doch für alle diese Volkswirtschaften haben sich die Aussichten aus Sicht der Rating-Experten in diesem Jahr verschlechtert. Mittelfristig könnten Herabstufungen folgen. Vor allem die schwachen Wachstumsaussichten in Lateinamerika haben die Agenturen skeptischer werden lassen.

Die Heraufstufung des Länderrisikos Brasiliens ist daher ein positives Signal inmitten wachsender Skepsis.

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Robustes Wachstum trotz Skepsis der Finanzmärkte

Die brasilianische Wirtschaft steht erneut deutlich besser da als erwartet. Dennoch bleiben Finanzinvestoren angesichts der steigenden Staatsausgaben vorsichtig.

von Alexander Busch, Lateinamerika-Korrespondent für Handelsblatt und NZZ

 

Zum dritten Mal in Folge überrascht die brasilianische Wirtschaft mit ihrer Dynamik

Die Wachstumsprognosen für 2024 wurden nach einem starken zweiten Quartal deutlich angehoben. Die größte Volkswirtschaft Lateinamerikas wird in diesem Jahr um rund drei Prozent wachsen. Damit liegt sie im Trend der letzten Jahre: Seit 2021 steigt das Bruttoinlandsprodukt jährlich um rund drei Prozent.

Dafür sorgen vor allem der Binnenkonsum, aber erstmals auch wieder steigende Investitionen: Die staatliche und private Nachfrage legte bis zur Jahresmitte um knapp fünf Prozent zu – und damit stärker als die Gesamtwirtschaft. Steigende Importe, die im zweiten Quartal um fast 15 Prozent über dem Vorjahreswert lagen, schlossen die Lücke zwischen Angebot und Nachfrage auf dem Binnenmarkt.

Die Arbeitslosigkeit liegt bei knapp sieben Prozent. Das ist für brasilianische Verhältnisse nahezu Vollbeschäftigung. Es ist die niedrigste Arbeitslosenquote seit zehn Jahren. Auch die Auslastung der Industrie ist so hoch wie seit einem Jahrzehnt nicht mehr.

Inzwischen ist der Inflationsdruck durch das höhere Wachstum und den weitgehend leergefegten Arbeitsmarkt gestiegen. Auch der schwache Real trägt zur steigenden Teuerung bei. Die Inflationsrate der letzten zwölf Monate liegt bei 4,5 Prozent. Da sich die Wirtschaft damit vom Inflationsziel der Zentralbank (3 Prozent) entfernt, dürften die Währungshüter die Zinsen noch in diesem Jahr anheben oder auf dem aktuell hohen Niveau belassen. Derzeit liegt der Leitzins Selic bei 10,5 Prozent.

Auch die Außenhandelsbilanz Brasiliens ist solide: Bis August wurde ein deutlicher Exportüberschuss erzielt, obwohl die Importe erstmals wieder stärker wuchsen als die Exporte. Die Devisenbilanz ist mit 370 Mrd. US-Dollar gut gefüllt.

Nach einem Bericht der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) ist Brasilien das zweitwichtigste Ziel für ausländische Direktinvestitionen weltweit. Im vergangenen Jahr flossen 64 Mrd. US-Dollar ins Land. Nur in den USA investierten ausländische Konzerne deutlich mehr. Die brasilianische Zentralbank rechnet auch in diesem Jahr mit einem ähnlich hohen Zufluss ausländischer Investitionen. Damit steht Brasiliens Wirtschaft im weltweiten Vergleich stabil da.

 

Finanzinvestoren sind gegenüber Brasilien derzeit skeptisch

In diesem Jahr wurde so viel Kapital aus dem Aktien- und Anleihemarkt abgezogen wie seit 40 Jahren nicht mehr. Der brasilianische Aktienindex bildet in diesem Jahr neben Mexiko nicht nur das Schlusslicht in Lateinamerikaauch im weltweiten Vergleich hat sich kaum ein Börsenplatz so schlecht entwickelt wie der in São Paulo. Der Dollar wurde gegenüber dem Real in diesem Jahr um rund 15 Prozent aufgewertet. Investoren verlangen höhere Zinsen (Spreads) für brasilianische Anleihen, weil das Risiko aus Sicht der Finanzmärkte steigt.

Die Diskrepanz zwischen der positiven wirtschaftlichen Realität und der Zurückhaltung der Investoren hat vor allem einen Grund: Investoren und viele Unternehmer sorgen sich um die mangelnde Haushaltsdisziplin der Regierung, die automatisch zu hohen Zinsen führt. Zudem verkürzt sich der Planungshorizont für unternehmerische Entscheidungen, da unklar ist, ob die Regierung gegen Ende der Legislaturperiode auf möglicherweise sinkende Wachstumszahlen mit einem expansiven Ausgabenprogramm reagieren wird.

Bereits jetzt sind die Staatsausgaben deutlich gestiegen. So liegt das Primärdefizit des Staates (also ohne Berücksichtigung der Zinszahlungen) derzeit bei rund 2,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Der Primärhaushalt ist der entscheidende Indikator dafür, ob ein Staat seine Verschuldung mittelfristig ausweiten oder abbauen wird.

Unter der Regierung Lula stieg die Schuldenquote von rund 70 auf aktuell 76 Prozent des BIP. Das unabhängige Fiscal Institute (IFI) schätzt, dass die Verschuldung Brasiliens bis 2034 auf über 100 Prozent steigen wird. Das ist für ein Industrieland nicht besorgniserregend, für ein Schwellenland wie Brasilien aber zu viel. Denn der Staat muss immer mehr Schulden zurückzahlen, ohne in Infrastruktur, Gesundheit oder Bildung investieren zu können.

Doch es gibt noch andere Gründe, warum Finanzinvestoren und Unternehmer skeptisch auf das Entwicklungspotenzial der Wirtschaft blicken. Sie stören sich an der staatlich dominierten Wirtschaftspolitik der Regierung. Sie befürchten, dass Brasilien dadurch im unambitionierten Mittelmaß verharrt und auf dem Weg weiter zurückfällt. Tatsächlich steigt die Produktivität der Wirtschaft kaum noch. Die durchschnittliche Arbeitsproduktivität der Brasilianer stagniert auf dem Niveau der 1980er Jahre.

Es ist unklar, woher in Brasilien die notwendigen Produktivitätszuwächse kommen sollen – sieht man einmal von der modernen Landwirtschaft und dem Bergbau ab. Denn das Bevölkerungswachstum Brasiliens ist rückläufig. Vom demografischen Bonus – wenn die wirtschaftlich aktive Bevölkerung schneller wächst als die Zahl der Inaktiven (Rentner und Kinder) – wird Brasilien nicht mehr profitieren.

Auch die Investitionsquote ist mit 16 Prozent gemessen am Bruttoinlandsprodukt sehr niedrig. Bei den derzeit weltweit wichtigen Wachstumsthemen wie Künstliche Intelligenz, Data Science, Halbleitertechnologie oder in der Informatik spielen brasilianische Unternehmen international keine bedeutende Rolle.

Vom weltweit stattfindenden Nearshoring hat Brasilien bisher – anders als erhofft – nur wenig profitiert. Noch vor kurzem war die Wirtschaft zuversichtlich, dass Brasilien von der globalen Verlagerung wirtschaftlicher Wertschöpfungsketten weg von China hin zu den westlichen Ländern profitieren würde. Doch anders als etwa in Mexiko haben sich in Brasilien kaum neue Industrien angesiedelt, um vom Zugang zum US-Markt zu profitieren.

Lediglich chinesische Automobilhersteller und Zulieferer haben eine Investitionsoffensive gestartet. Mehrere Unternehmen bauen derzeit Fabriken und setzen auf den lokalen Markt und Brasilien als Standort für Exporte nach Südamerika. Dies betrifft insbesondere Elektroautos. Vor allem europäische Automobilhersteller werden dadurch in einem ihrer traditionell wichtigen Märkte unter Druck geraten.

 

Dennoch hat Brasilien im internationalen Vergleich wichtige strategische Vorteile

So wird Brasilien in Zukunft seine Position als globaler Lieferant von Nahrungsmitteln weiter ausbauen. Bei Soja, Fleisch, Zucker, Mais und Kaffee gehört Brasilien zu den weltweit führenden Anbietern. Zulieferer für die Agrar- und Ernährungswirtschaft haben dort einen großen Markt.

Auch bei Industrierohstoffen hat Brasilien großes Potenzial: Neben Eisenerz liefert das Land viele wichtige Bergbauprodukte, von Niob bis Lithium. Und als Erdölproduzent wird die Bedeutung Brasiliens in der Welt zunehmen. Heute ist Brasilien das achtgrößte Förderland der Welt. Weitere Vorkommen vor der Küste sollen erschlossen werden.

Gleichzeitig bezieht Brasilien schon heute einen erheblichen Teil seines Stroms aus nachhaltigen Quellen. Das macht das Land zu einem attraktiven Standort für Industrien, die mit grüner Energie produzieren wollen.

Ein weiterer Standortvorteil ist die geopolitisch neutrale Positionierung des Landes durch die Regierung Lula: Das Land hält Äquidistanz zu den geopolitischen Machtpolen China und USA. Mit beiden Weltmächten wird gehandelt und verhandelt.

 

Die Distanz zu Europa ist auch gewachsen

Die neue Neutralität des Landes wird vor allem in Europa kritisiert. Aber auch Europa hat für Brasilien an Bedeutung verloren. Der Handel schrumpft. Europäische Unternehmen investieren nur zögerlich in Brasilien. In der öffentlichen Wahrnehmung in Brasilien rückt Europa immer weiter von Lateinamerika ab und ist zudem mit einer Vielzahl eigener ungelöster Probleme vollauf beschäftigt.

Die gerade wieder aufgenommenen EU-Mercosur-Verhandlungen über eine gemeinsame Wirtschaftszone könnten daher eine neue Dynamik in die Beziehungen zwischen Europa und Südamerika bringen. Sie könnten einen solchen Impuls gut gebrauchen.

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Wird 2024 als China-Jahr in die Geschichte Südamerikas eingehen?

Gegenwärtig könnte China seinen politischen Einfluss in Südamerika deutlich ausweiten. In der zweiten Jahreshälfte stehen dafür einige wichtige Ereignisse an.

von Alexander Busch, Lateinamerika-Korrespondent für Handelsblatt und NZZ

 

In Südamerika hat man sich inzwischen daran gewöhnt, dass Unternehmen aus China ganze Branchen und Regionen dominieren. So kontrollieren chinesische Staatskonzerne die Stromversorgung im Bundesstaat São Paulo, dem mit Abstand größten Wirtschaftszentrum Südamerikas, ebenso wie in der peruanischen Hauptstadt Lima.

In der chilenischen Hauptstadt Santiago fährt die größte städtische E-Bus-Flotte außerhalb Chinas. Kaum eine Straße in den Anden wird heute ohne chinesische Beteiligung oder Finanzierung gebaut. Im Bergbau der Region sind chinesische Konzerne längst auf dem Vormarsch.

Auch der Handel zwischen China und Lateinamerika hat rasant zugenommen. Im Jahr 2023 wurden Waren im Wert von fast 500 Mrd. US-Dollar zwischen China und Lateinamerika ausgetauscht, vor rund zwei Jahrzehnten waren es gerade einmal 18 Mrd. US-Dollar (2002).

Chinas Nachfrage nach Produkten wie Soja, Kupfer, Eisenerz, Öl und Lithium wird weiter steigen. Fast 90 Prozent des Handels werden über Brasilien, Mexiko, Chile, Peru und Kolumbien abgewickelt.

Die USA sind nach wie vor führend bei Investitionen und Handel mit Lateinamerika. Das liegt aber vor allem an Mexiko, das über ein Freihandelsabkommen (USMCA) eng mit den USA und Kanada verbunden ist. Auch Europa hat in Lateinamerika mehr investiert als China.

In Südamerika hingegen dominiert China eindeutig als Handelspartner. Dort stehen in den nächsten Monaten einige Ereignisse an, die auch die politische Dominanz Chinas in der Region deutlich stärken könnten.

So wird der chinesische Staatspräsident Xi Jinping im November den neuen Überseehafen Chancay in Peru einweihen. Es wird der mit Abstand größte Tiefseehafen auf der Pazifikseite Südamerikas sein. Er wurde unter der Leitung und Finanzierung des chinesischen Hafenbetreibers Cosco gebaut und finanziert. Der Containerhafen wird die Fahrtzeit zwischen Südamerika und China um zehn Tage verkürzen.

Der Hafen ist das Vorzeigeprojekt der chinesischen Belt and Road Initiative (BRI) in Lateinamerika. Damit baut Peking weltweit die Infrastruktur für den Handel nach seinen Interessen um. In Lateinamerika haben 22 von 33 Staaten ein BRI-Abkommen mit China unterzeichnet.

Peking drängt nun vor allem Brasilien, ebenfalls ein solches Abkommen zu unterzeichnen. Auf dem G20-Gipfel in Brasília im November will Präsident Xi ein solches Abkommen als jüngsten außenwirtschaftlichen Triumph zum 50-jährigen Jubiläum der brasilianisch-chinesischen Beziehungen präsentieren.

Die Regierung Lula zögert noch. Was soll ein Abkommen an den guten Beziehungen zwischen den Staaten noch verbessern, fragt man sich in Brasília – und schreckt vor dem Hintergrund der geopolitischen Spannungen zwischen den USA und China vor einer demonstrativen Annäherung an China zurück. Das Abkommen würde in den USA und in Europa genauso interpretiert werden. Wichtige Vertreter von Lulas Arbeiterpartei drängen jedoch seit längerem auf einen Beitritt Brasiliens zur BRT-Initiative.

In Uruguay stagnieren die Verhandlungen über eine Freihandelszone mit China, nachdem beide Regierungen ein Memorandum of Understanding unterzeichnet haben. Ein solches Abkommen würde das Ende des Mercosur in seiner jetzigen Form bedeuten. Denn Uruguay ist Mitglied und müsste dann austreten. In Montevideo hängt es von den Wahlen im November ab, ob die chinafreundliche Politik der jetzigen Regierung fortgesetzt wird.

Auch der zunehmend von China dominierte Staatenbund BRICS könnte bei seinem Treffen Ende Oktober in Russland die Aufnahme neuer Mitglieder aus Südamerika verkünden. Vor allem Venezuela und Bolivien wollen unbedingt beitreten.

Alles deutet darauf hin, dass China in diesem Jahr in Südamerika wichtige politische Fortschritte erzielen kann. Vor allem Europa wird dies als politischen und wirtschaftlichen Gegenwind zu spüren bekommen.

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Maduros Wahlkampfmanöver gefährden Wirtschaftsaufschwung

Venezuelas Wirtschaft könnte in kurzer Zeit boomen. Doch dafür braucht es Rechtsstaatlichkeit.

von Alexander Busch, Lateinamerika-Korrespondent für Handelsblatt und NZZ

 

Nicht nur die Mehrheit der Bevölkerung hoffte vor den Wahlen optimistisch auf einen friedlichen Regierungswechsel. Auch viele Unternehmen und Investoren wünschten sich eine Ablösung des Regimes. Doch Präsident Nicolás Maduro hat deutlich gemacht, dass er trotz der umstrittenen Wahlen an der Macht bleiben will.

Das ist nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich eine bittere Enttäuschung: Denn unter stabilen rechtsstaatlichen Verhältnissen könnte das Karibikland in kürzester Zeit zu einer der am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften der Welt werden. Alejandro Arreaza von Barcleys schätzt, dass Venezuela unter einer neuen Regierung in den nächsten zwei Jahren zweistellig wachsen würde.

Der Karibikstaat verfügt nicht nur über die größten Ölreserven der Welt. Es hat nach zehn Jahren staatlicher Misswirtschaft einen enormen Nachholbedarf an Investitionen. Multilaterale Geldgeber und eine Aufhebung der US-Sanktionen könnten die Ölproduktion und die brachliegende einheimische Industrie in kurzer Zeit wieder ankurbeln.

Die USA hatten die Wirtschaftssanktionen gegen Venezuela wegen des Wahlbetrugs ab 2019 verschärft. Diese wurden im vergangenen Jahr gelockert, weil das Regime freie Wahlen versprach. Nun ist offen, ob die USA die Strafmaßnahmen wieder in Kraft setzen.

Seit vergangenem Jahr dürfen ausländische Ölkonzerne wie Chevron, Eni und Repsol wieder eingeschränkt Öl in Venezuela fördern. Die Lizenzen wurden gerade von den USA verlängert. Sie wären also von einer erneuten Verschärfung der Strafmaßnahmen nicht betroffen.

Venezuela erlebt seit rund drei Jahren eine wirtschaftliche Stabilisierung. Nach Angaben des Internationalen Währungsfonds (IWF) wird Venezuela in diesem Jahr um rund vier Prozent wachsen. Die Verbraucherinflation ist auf 160 Prozent gesunken. Der Dollar ist seit drei Jahren inoffizielles Zahlungsmittel.

Der Absturz Venezuelas von einer der reichsten Volkswirtschaften Lateinamerikas in 25 Jahren Linksregierung, erst unter Hugo Chávez und jetzt unter Maduro, ist gewaltig: Die Wirtschaftsleistung ist in elf Jahren um drei Viertel geschrumpft. Das jährliche Pro-Kopf-Einkommen liegt bei rund 8500 Dollar – etwa so viel wie in Bangladesch.

Um die Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen, müsste die Regierung eine Umschuldung der Auslandsschulden organisieren. Seit 2017 bedient Venezuela seine Schulden in Höhe von rund 150 Milliarden Dollar nicht mehr.

Doch der Weg zurück an die internationalen Finanzmärkte ist Venezuela versperrt: Die Gläubiger dürfen wegen der US-Sanktionen nicht mit Venezuela verhandeln. Doch erst nach einer Umschuldung könnten westliche Geldgeber wie Unternehmen wieder offiziell im Land investieren.

Auch Wirtschaftsanwälte in Caracas raten westlichen Unternehmen derzeit von Investitionen in Venezuela ab. Die rechtlichen Rahmenbedingungen seien nicht gesichert.

Die größten Hoffnungen setzt die Wirtschaft darauf, dass die leichte Erholung der Ölindustrie anhält und das Wachstum weiter stützt: So schätzt Barclays, dass Venezuelas maroder Ölsektor viele Möglichkeiten für eine kurzfristige und kostengünstige Sanierung bietet. Vor der Wahl prognostizierte die Investmentbank einen Anstieg der Ölproduktion von derzeit 850.000 auf zwei Millionen Barrel pro Tag bis 2030.

Es dürfte nun von der nächsten US-Regierung abhängen, welche Politik sie gegenüber Venezuela verfolgt – und damit, wie stark der Ölstaat wachsen wird.

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