Infrastruktur Brasiliens im Aufwind

Investoren zeigen überraschend großes Interesse an neuen Konzessionen. Die Regierung will nun den Anteil privater Beteiligungen an ihnen erhöhen.

von Alexander Busch, Lateinamerika-Korrespondent für Handelsblatt und NZZ

 

Nach langem Stillstand kommt plötzlich Bewegung in Brasiliens Infrastruktursektor. Bei den Ausschreibungen der vergangenen Tage gab es erstmals seit Jahren wieder lebhafte Bieterrunden. Dabei ging es unter anderem um die Anbindung von zwei wichtigen Fernstraßen aus den Agrargebieten nach São Paulo und zu den Atlantikhäfen. 14 Unternehmen und Investmentfonds boten mit und trieben die Agios deutlich in die Höhe. Die Unternehmen verpflichteten sich, rund 3,6 Mrd. Euro in den Ausbau der Fernstraßen zu investieren.

Das ist erst der Anfang. Die Regierung will vor allem die privaten Investitionen in Straßen, Bahnkonzessionen und Kanalisation erhöhen. 35 Ausschreibungen für Fernstraßen will die Regierung in ihrer Amtszeit bis Ende 2026 versteigern. Hinzu kommen fünf Eisenbahnverbindungen.

Das große Interesse überrascht. Denn Brasiliens Infrastruktursektor entwickelte sich fast ein Jahrzehnt lang wegen des Korruptionsskandals Lava Jato weit unter seinem Potenzial. Die damals beteiligten Baukonzerne fielen als Investoren aus. Pandemie und politische Turbulenzen sorgten für eine weitere Phase der Zurückhaltung privater Konzerne.

Doch jetzt haben sich die Rahmenbedingungen geändert: Mit dem neuen Ausschreibungsgesetz von 2021 (Nova Lei de Licitações e Contratos, kurz NLLC) wurden die Konzessionen modernisiert. Sie sind transparenter, nachhaltiger und der Staat übernimmt deutlich höhere Risiken als bisher.

Hinzu kommt, dass der Regierung von Präsident Luiz Inacio Lula da Silva kaum Mittel zur Finanzierung staatlicher Infrastrukturprojekte zur Verfügung stehen. Finanzinvestoren erwarten jetzt Kürzungen bei den Staatsausgaben – keine weiteren Erhöhungen.

Das Haushaltsdefizit Brasiliens ist seit Lulas Amtsantritt Anfang vergangenen Jahres um rund zehn Prozentpunkte von 72 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) gestiegen. Investoren verlangen bereits hohe Zinsaufschläge, um Brasilien Geld zu leihen. Der Leitzins liegt bei astronomischen 10,75 Prozent – keine gute Voraussetzung für langfristige Investitionen.

Gleichzeitig investiert Brasilien weniger als die Hälfte dessen, was nötig wäre, um nur die bestehende Infrastruktur zu erhalten. Statt 4-5 Prozent des BIP fließen weniger als 2 Prozent in den Sektor, so die Experten der Beratungsfirma InterB.

Um die Investitionslücke zu schließen, setzt die Regierung nun vor allem auf privates Kapital. Die staatliche Entwicklungsbank BNDES will den Anteil privater Konzessionäre bei Ausschreibungen durch Finanzierungen auf 75 Prozent erhöhen. In diesem Jahr übertrifft der Anteil privater Investitionen in die Infrastruktur erstmals den der öffentlichen Hand.

Es ist davon auszugehen, dass bald auch neue ausländische Konzerne auf den Plan treten: Denn je mehr Projekte in der Pipeline sind, desto eher lassen sich die Kosten für teure Beteiligungen an Ausschreibungen verteilen. Zudem treten vor allem brasilianische Investmentfonds als neue Akteure auf.

Vieles deutet darauf hin, dass Brasilien vor einer neuen Welle von Infrastrukturinvestitionen steht. Für die Gesamtwirtschaft wäre das ein gutes Zeichen: Denn die Transportkosten sind derzeit der größte Kostenfaktor für die Exportwirtschaft.

Brasilien Landstraße
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Brasiliens neue Neutralität als Chance für Europa

Das Land justiert derzeit seine Position in der Weltpolitik neu. Seine geopolitische Neutralität könnte zum strategischen Vorteil für den wichtigsten Investitionsstandort der deutschen Wirtschaft in Südamerika werden.

von Alexander Busch, Lateinamerika-Korrespondent für Handelsblatt und NZZ

 

Brasiliens Diplomatie ist in diesen Tagen gefordert. Innerhalb eines Monats finden mehrere wichtige Treffen statt, bei denen das Land deutlich machen muss, welche Position es in der Weltpolitik und damit auch in der Weltwirtschaft anstrebt.

Die Ereignisse sind hochkarätig: Den Auftakt macht der BRICS+-Gipfel in Russland – das erste Treffen nach der Erweiterung des Staatenbundes. Das APEC-Forum (Asia-Pacific Economic Cooperation) vom 10. bis 16. November in Peru ist wichtig für die künftige Anbindung Brasiliens in Südamerika und an den asiatischen Markt. Beim G20-Gipfel in Rio de Janeiro (18.-19. November) ist Brasilien Gastgeber. Unmittelbar danach besucht der chinesische Staatschef Xi Jinping Brasilien anlässlich des 50-jährigen Jubiläums der brasilianisch-chinesischen Beziehungen.

Es ist davon auszugehen, dass Brasilien bei diesen Anlässen versuchen wird, eine geopolitisch neutrale Position zu demonstrieren, vergleichbar mit der Rolle eines blockfreien Staates. Angesichts der zunehmenden Verschärfung der weltpolitischen Konfrontationen ist dies ein schwieriges Unterfangen – und wird viele enttäuschen, die von Brasilien eine klare weltpolitische Lagerzuordnung erwarten.

So hat die brasilianische Regierung mit ihrer Parteinahme für Russland, Venezuela und Palästina in den USA und Europa Sympathien verspielt. Der von Brasilien und China gemeinsam vorgelegte „Friedensplan“ für die Ukraine, der vor allem russische Interessen berücksichtigt, hat die Zweifel im demokratischen Westen noch verstärkt.

Gleichzeitig hat sich Brasilien aber bisher den Umarmungsversuchen Chinas widersetzt. Peking drängt Brasilien zur Unterzeichnung eines Seidenstraßen-Abkommens, um chinesischen Investoren besseren Zugang zu verschaffen. Doch Brasília will Technologiezugang und verlässliche Investitionszusagen, die China bisher weder angeboten hat noch garantieren will.

Zudem verhandelt Brasilien mit China aus einer Position der Stärke: China ist zwar Brasiliens größter Handelspartner. China ist aber gerade wegen der Konfrontation mit den USA auf Nahrungsmittel- und Ölimporte aus Brasilien angewiesen.

Inwieweit es Brasilien in Zukunft gelingen wird, weltpolitisch „neutral“ zu bleiben, entscheidet sich nicht nur in Brasília, sondern auch mit der politischen Entwicklung etwa in Washington und Peking in den nächsten Jahren.

In Europa sollten wir das brasilianische Streben nach Äquidistanz zu den neuen und alten Machtblöcken aber auch als Chance begreifen. Aus drei Gründen:

Erstens: Brasiliens Neutralität könnte sich bei einer Verschärfung des Kräftemessens zwischen neuen und alten Großmächten als positiver Standortfaktor erweisen. Brasilien wird versuchen, weiterhin mit der ganzen Welt Handel zu treiben und im Gespräch zu bleiben. Europäische Unternehmen sollten dies bei der Reorganisation ihrer Wertschöpfungsketten unter dem Stichwort „Nearshoring“ berücksichtigen.

Zweitens: Brasilien wird als Exporteur in der Weltwirtschaft wichtiger: Das Land wird als Produzent und globaler Lieferant von Nahrungsmitteln, Industrierohstoffen sowie konventioneller und nachhaltiger Energie an Bedeutung gewinnen.

Drittens: Und nicht zuletzt: Brasilien ist wie die wirtschaftlich wichtigsten Staaten Südamerikas eine Demokratie. Es gibt keine Anzeichen, dass sie dies ändern wollen.

Vor diesem Hintergrund wäre der Abschluss des EU-Mercosur-Abkommens umso wichtiger, denn es wäre eine Win-Win-Situation für beide Seiten. Beide Regionen würden ihr geopolitisches Gewicht durch die Gründung der größten Wirtschaftsgemeinschaft der Welt deutlich erhöhen. Dies sollte sowohl im Interesse Südamerikas als auch Europas sein.

Brasília
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Brasiliens Kreditwürdigkeit steigt: Hochstufung durch Moody’s überrascht

Trotz steigender Staatsverschuldung nähert sich Lateinamerikas größte Volkswirtschaft dem Investmentgrade – ein gutes Zeichen für die gesamte Region

von Alexander Busch, Lateinamerika-Korrespondent für Handelsblatt und NZZ

 

Die Nachricht am 1. Oktober überraschte den Finanzmarkt in São Paulo: Erstmals seit acht Jahren hat die Ratingagentur Moody’s das Länderrisiko Brasiliens heraufgestuft. Mit Ba1 fehlt Brasilien nur noch ein Upgrade, um den 2015 verlorenen Investmentgrade wiederzuerlangen.

Ein Investmentgrade ist für ein Schwellenland wie Brasilien wichtig, weil es institutionellen Anlegern wie Pensionsfonds ermöglicht, in Anleihen oder Fonds des Landes zu investieren. Die Kreditaufnahme wird dadurch einfacher und billiger.

Auch Unternehmen und Banken, die sich international finanzieren wollen, profitieren von einem besseren Länderrating. Nach der Heraufstufung durch Moody’s verbesserte die Agentur auch die Ratings zahlreicher brasilianischer Konzerne und Banken.

Die Verbesserung der Kreditwürdigkeit Brasiliens kam überraschend, da fast alle Investmentbanken und Ökonomen der Meinung sind, dass Brasiliens Haushaltsdefizit zu groß ist und die Verschuldung daher zu schnell steigen wird. Kaum jemand erwartet, dass die Regierung ohne Berücksichtigung der Zinszahlungen einen ausgeglichenen oder gar positiven Haushalt erreicht.

Ein solcher Primärüberschuss wäre aber notwendig, um den Finanzmärkten ein Signal zu geben, dass die Verschuldung wieder sinken wird. Andernfalls sind weitere Zinserhöhungen notwendig, um Investoren zu überzeugen, Brasilien Geld zu leihen. Schon jetzt liegt der Leitzins bei hohen 10,75 Prozent.

Tatsächlich ist die Staatsverschuldung Brasiliens seit Beginn der aktuellen Regierung um fast zehn Prozentpunkte gestiegen. Fitch Rating etwa befürchtet, dass die Verschuldung im kommenden Jahr auf 84 Prozent des Bruttoinlandsprodukts BIP steigen könnte (von 72 Prozent Anfang 2023).

Doch Moody’s lässt sich von solchen Befürchtungen nicht beeindrucken. Für die Agentur ist vor allem das nun schon im dritten Jahr besser als erwartete Wachstum der Grund dafür, dass Brasilien dank höherer Steuereinnahmen seine Schulden zurückzahlen kann. Auch die Reformen der letzten Jahre (wie die Autonomie der Zentralbank, die Rentenreform oder strengere Corporate-Governance-Regeln für Staatsunternehmen) haben die Produktivität Brasiliens erhöht.

Das ist ein überraschend gutes Zeugnis für die Wirtschafts- und Finanzpolitik der Regierung. Zumal Moody’s nicht nur das Rating verbessert, sondern auch einen positiven Ausblick gegeben hat.

Moody’s ist nun optimistischer als die beiden anderen großen Ratingagenturen. Standard & Poor’s und Fitch bewerten das Land mit BB, zwei Stufen unter Investment Grade, der Ausblick ist bei beiden stabil.

Unter den sechs größten Volkswirtschaften Lateinamerikas ist Brasilien derzeit neben Argentinien das einzige Land ohne Investmentgrade-Rating. Chile, Mexiko, Peru und Kolumbien haben das Gütesiegel der Agenturen.

Doch für alle diese Volkswirtschaften haben sich die Aussichten aus Sicht der Rating-Experten in diesem Jahr verschlechtert. Mittelfristig könnten Herabstufungen folgen. Vor allem die schwachen Wachstumsaussichten in Lateinamerika haben die Agenturen skeptischer werden lassen.

Die Heraufstufung des Länderrisikos Brasiliens ist daher ein positives Signal inmitten wachsender Skepsis.

São Paulo
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Robustes Wachstum trotz Skepsis der Finanzmärkte

Die brasilianische Wirtschaft steht erneut deutlich besser da als erwartet. Dennoch bleiben Finanzinvestoren angesichts der steigenden Staatsausgaben vorsichtig.

von Alexander Busch, Lateinamerika-Korrespondent für Handelsblatt und NZZ

 

Zum dritten Mal in Folge überrascht die brasilianische Wirtschaft mit ihrer Dynamik

Die Wachstumsprognosen für 2024 wurden nach einem starken zweiten Quartal deutlich angehoben. Die größte Volkswirtschaft Lateinamerikas wird in diesem Jahr um rund drei Prozent wachsen. Damit liegt sie im Trend der letzten Jahre: Seit 2021 steigt das Bruttoinlandsprodukt jährlich um rund drei Prozent.

Dafür sorgen vor allem der Binnenkonsum, aber erstmals auch wieder steigende Investitionen: Die staatliche und private Nachfrage legte bis zur Jahresmitte um knapp fünf Prozent zu – und damit stärker als die Gesamtwirtschaft. Steigende Importe, die im zweiten Quartal um fast 15 Prozent über dem Vorjahreswert lagen, schlossen die Lücke zwischen Angebot und Nachfrage auf dem Binnenmarkt.

Die Arbeitslosigkeit liegt bei knapp sieben Prozent. Das ist für brasilianische Verhältnisse nahezu Vollbeschäftigung. Es ist die niedrigste Arbeitslosenquote seit zehn Jahren. Auch die Auslastung der Industrie ist so hoch wie seit einem Jahrzehnt nicht mehr.

Inzwischen ist der Inflationsdruck durch das höhere Wachstum und den weitgehend leergefegten Arbeitsmarkt gestiegen. Auch der schwache Real trägt zur steigenden Teuerung bei. Die Inflationsrate der letzten zwölf Monate liegt bei 4,5 Prozent. Da sich die Wirtschaft damit vom Inflationsziel der Zentralbank (3 Prozent) entfernt, dürften die Währungshüter die Zinsen noch in diesem Jahr anheben oder auf dem aktuell hohen Niveau belassen. Derzeit liegt der Leitzins Selic bei 10,5 Prozent.

Auch die Außenhandelsbilanz Brasiliens ist solide: Bis August wurde ein deutlicher Exportüberschuss erzielt, obwohl die Importe erstmals wieder stärker wuchsen als die Exporte. Die Devisenbilanz ist mit 370 Mrd. US-Dollar gut gefüllt.

Nach einem Bericht der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) ist Brasilien das zweitwichtigste Ziel für ausländische Direktinvestitionen weltweit. Im vergangenen Jahr flossen 64 Mrd. US-Dollar ins Land. Nur in den USA investierten ausländische Konzerne deutlich mehr. Die brasilianische Zentralbank rechnet auch in diesem Jahr mit einem ähnlich hohen Zufluss ausländischer Investitionen. Damit steht Brasiliens Wirtschaft im weltweiten Vergleich stabil da.

 

Finanzinvestoren sind gegenüber Brasilien derzeit skeptisch

In diesem Jahr wurde so viel Kapital aus dem Aktien- und Anleihemarkt abgezogen wie seit 40 Jahren nicht mehr. Der brasilianische Aktienindex bildet in diesem Jahr neben Mexiko nicht nur das Schlusslicht in Lateinamerikaauch im weltweiten Vergleich hat sich kaum ein Börsenplatz so schlecht entwickelt wie der in São Paulo. Der Dollar wurde gegenüber dem Real in diesem Jahr um rund 15 Prozent aufgewertet. Investoren verlangen höhere Zinsen (Spreads) für brasilianische Anleihen, weil das Risiko aus Sicht der Finanzmärkte steigt.

Die Diskrepanz zwischen der positiven wirtschaftlichen Realität und der Zurückhaltung der Investoren hat vor allem einen Grund: Investoren und viele Unternehmer sorgen sich um die mangelnde Haushaltsdisziplin der Regierung, die automatisch zu hohen Zinsen führt. Zudem verkürzt sich der Planungshorizont für unternehmerische Entscheidungen, da unklar ist, ob die Regierung gegen Ende der Legislaturperiode auf möglicherweise sinkende Wachstumszahlen mit einem expansiven Ausgabenprogramm reagieren wird.

Bereits jetzt sind die Staatsausgaben deutlich gestiegen. So liegt das Primärdefizit des Staates (also ohne Berücksichtigung der Zinszahlungen) derzeit bei rund 2,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Der Primärhaushalt ist der entscheidende Indikator dafür, ob ein Staat seine Verschuldung mittelfristig ausweiten oder abbauen wird.

Unter der Regierung Lula stieg die Schuldenquote von rund 70 auf aktuell 76 Prozent des BIP. Das unabhängige Fiscal Institute (IFI) schätzt, dass die Verschuldung Brasiliens bis 2034 auf über 100 Prozent steigen wird. Das ist für ein Industrieland nicht besorgniserregend, für ein Schwellenland wie Brasilien aber zu viel. Denn der Staat muss immer mehr Schulden zurückzahlen, ohne in Infrastruktur, Gesundheit oder Bildung investieren zu können.

Doch es gibt noch andere Gründe, warum Finanzinvestoren und Unternehmer skeptisch auf das Entwicklungspotenzial der Wirtschaft blicken. Sie stören sich an der staatlich dominierten Wirtschaftspolitik der Regierung. Sie befürchten, dass Brasilien dadurch im unambitionierten Mittelmaß verharrt und auf dem Weg weiter zurückfällt. Tatsächlich steigt die Produktivität der Wirtschaft kaum noch. Die durchschnittliche Arbeitsproduktivität der Brasilianer stagniert auf dem Niveau der 1980er Jahre.

Es ist unklar, woher in Brasilien die notwendigen Produktivitätszuwächse kommen sollen – sieht man einmal von der modernen Landwirtschaft und dem Bergbau ab. Denn das Bevölkerungswachstum Brasiliens ist rückläufig. Vom demografischen Bonus – wenn die wirtschaftlich aktive Bevölkerung schneller wächst als die Zahl der Inaktiven (Rentner und Kinder) – wird Brasilien nicht mehr profitieren.

Auch die Investitionsquote ist mit 16 Prozent gemessen am Bruttoinlandsprodukt sehr niedrig. Bei den derzeit weltweit wichtigen Wachstumsthemen wie Künstliche Intelligenz, Data Science, Halbleitertechnologie oder in der Informatik spielen brasilianische Unternehmen international keine bedeutende Rolle.

Vom weltweit stattfindenden Nearshoring hat Brasilien bisher – anders als erhofft – nur wenig profitiert. Noch vor kurzem war die Wirtschaft zuversichtlich, dass Brasilien von der globalen Verlagerung wirtschaftlicher Wertschöpfungsketten weg von China hin zu den westlichen Ländern profitieren würde. Doch anders als etwa in Mexiko haben sich in Brasilien kaum neue Industrien angesiedelt, um vom Zugang zum US-Markt zu profitieren.

Lediglich chinesische Automobilhersteller und Zulieferer haben eine Investitionsoffensive gestartet. Mehrere Unternehmen bauen derzeit Fabriken und setzen auf den lokalen Markt und Brasilien als Standort für Exporte nach Südamerika. Dies betrifft insbesondere Elektroautos. Vor allem europäische Automobilhersteller werden dadurch in einem ihrer traditionell wichtigen Märkte unter Druck geraten.

 

Dennoch hat Brasilien im internationalen Vergleich wichtige strategische Vorteile

So wird Brasilien in Zukunft seine Position als globaler Lieferant von Nahrungsmitteln weiter ausbauen. Bei Soja, Fleisch, Zucker, Mais und Kaffee gehört Brasilien zu den weltweit führenden Anbietern. Zulieferer für die Agrar- und Ernährungswirtschaft haben dort einen großen Markt.

Auch bei Industrierohstoffen hat Brasilien großes Potenzial: Neben Eisenerz liefert das Land viele wichtige Bergbauprodukte, von Niob bis Lithium. Und als Erdölproduzent wird die Bedeutung Brasiliens in der Welt zunehmen. Heute ist Brasilien das achtgrößte Förderland der Welt. Weitere Vorkommen vor der Küste sollen erschlossen werden.

Gleichzeitig bezieht Brasilien schon heute einen erheblichen Teil seines Stroms aus nachhaltigen Quellen. Das macht das Land zu einem attraktiven Standort für Industrien, die mit grüner Energie produzieren wollen.

Ein weiterer Standortvorteil ist die geopolitisch neutrale Positionierung des Landes durch die Regierung Lula: Das Land hält Äquidistanz zu den geopolitischen Machtpolen China und USA. Mit beiden Weltmächten wird gehandelt und verhandelt.

 

Die Distanz zu Europa ist auch gewachsen

Die neue Neutralität des Landes wird vor allem in Europa kritisiert. Aber auch Europa hat für Brasilien an Bedeutung verloren. Der Handel schrumpft. Europäische Unternehmen investieren nur zögerlich in Brasilien. In der öffentlichen Wahrnehmung in Brasilien rückt Europa immer weiter von Lateinamerika ab und ist zudem mit einer Vielzahl eigener ungelöster Probleme vollauf beschäftigt.

Die gerade wieder aufgenommenen EU-Mercosur-Verhandlungen über eine gemeinsame Wirtschaftszone könnten daher eine neue Dynamik in die Beziehungen zwischen Europa und Südamerika bringen. Sie könnten einen solchen Impuls gut gebrauchen.

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Wird 2024 als China-Jahr in die Geschichte Südamerikas eingehen?

Gegenwärtig könnte China seinen politischen Einfluss in Südamerika deutlich ausweiten. In der zweiten Jahreshälfte stehen dafür einige wichtige Ereignisse an.

von Alexander Busch, Lateinamerika-Korrespondent für Handelsblatt und NZZ

 

In Südamerika hat man sich inzwischen daran gewöhnt, dass Unternehmen aus China ganze Branchen und Regionen dominieren. So kontrollieren chinesische Staatskonzerne die Stromversorgung im Bundesstaat São Paulo, dem mit Abstand größten Wirtschaftszentrum Südamerikas, ebenso wie in der peruanischen Hauptstadt Lima.

In der chilenischen Hauptstadt Santiago fährt die größte städtische E-Bus-Flotte außerhalb Chinas. Kaum eine Straße in den Anden wird heute ohne chinesische Beteiligung oder Finanzierung gebaut. Im Bergbau der Region sind chinesische Konzerne längst auf dem Vormarsch.

Auch der Handel zwischen China und Lateinamerika hat rasant zugenommen. Im Jahr 2023 wurden Waren im Wert von fast 500 Mrd. US-Dollar zwischen China und Lateinamerika ausgetauscht, vor rund zwei Jahrzehnten waren es gerade einmal 18 Mrd. US-Dollar (2002).

Chinas Nachfrage nach Produkten wie Soja, Kupfer, Eisenerz, Öl und Lithium wird weiter steigen. Fast 90 Prozent des Handels werden über Brasilien, Mexiko, Chile, Peru und Kolumbien abgewickelt.

Die USA sind nach wie vor führend bei Investitionen und Handel mit Lateinamerika. Das liegt aber vor allem an Mexiko, das über ein Freihandelsabkommen (USMCA) eng mit den USA und Kanada verbunden ist. Auch Europa hat in Lateinamerika mehr investiert als China.

In Südamerika hingegen dominiert China eindeutig als Handelspartner. Dort stehen in den nächsten Monaten einige Ereignisse an, die auch die politische Dominanz Chinas in der Region deutlich stärken könnten.

So wird der chinesische Staatspräsident Xi Jinping im November den neuen Überseehafen Chancay in Peru einweihen. Es wird der mit Abstand größte Tiefseehafen auf der Pazifikseite Südamerikas sein. Er wurde unter der Leitung und Finanzierung des chinesischen Hafenbetreibers Cosco gebaut und finanziert. Der Containerhafen wird die Fahrtzeit zwischen Südamerika und China um zehn Tage verkürzen.

Der Hafen ist das Vorzeigeprojekt der chinesischen Belt and Road Initiative (BRI) in Lateinamerika. Damit baut Peking weltweit die Infrastruktur für den Handel nach seinen Interessen um. In Lateinamerika haben 22 von 33 Staaten ein BRI-Abkommen mit China unterzeichnet.

Peking drängt nun vor allem Brasilien, ebenfalls ein solches Abkommen zu unterzeichnen. Auf dem G20-Gipfel in Brasília im November will Präsident Xi ein solches Abkommen als jüngsten außenwirtschaftlichen Triumph zum 50-jährigen Jubiläum der brasilianisch-chinesischen Beziehungen präsentieren.

Die Regierung Lula zögert noch. Was soll ein Abkommen an den guten Beziehungen zwischen den Staaten noch verbessern, fragt man sich in Brasília – und schreckt vor dem Hintergrund der geopolitischen Spannungen zwischen den USA und China vor einer demonstrativen Annäherung an China zurück. Das Abkommen würde in den USA und in Europa genauso interpretiert werden. Wichtige Vertreter von Lulas Arbeiterpartei drängen jedoch seit längerem auf einen Beitritt Brasiliens zur BRT-Initiative.

In Uruguay stagnieren die Verhandlungen über eine Freihandelszone mit China, nachdem beide Regierungen ein Memorandum of Understanding unterzeichnet haben. Ein solches Abkommen würde das Ende des Mercosur in seiner jetzigen Form bedeuten. Denn Uruguay ist Mitglied und müsste dann austreten. In Montevideo hängt es von den Wahlen im November ab, ob die chinafreundliche Politik der jetzigen Regierung fortgesetzt wird.

Auch der zunehmend von China dominierte Staatenbund BRICS könnte bei seinem Treffen Ende Oktober in Russland die Aufnahme neuer Mitglieder aus Südamerika verkünden. Vor allem Venezuela und Bolivien wollen unbedingt beitreten.

Alles deutet darauf hin, dass China in diesem Jahr in Südamerika wichtige politische Fortschritte erzielen kann. Vor allem Europa wird dies als politischen und wirtschaftlichen Gegenwind zu spüren bekommen.

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Maduros Wahlkampfmanöver gefährden Wirtschaftsaufschwung

Venezuelas Wirtschaft könnte in kurzer Zeit boomen. Doch dafür braucht es Rechtsstaatlichkeit.

von Alexander Busch, Lateinamerika-Korrespondent für Handelsblatt und NZZ

 

Nicht nur die Mehrheit der Bevölkerung hoffte vor den Wahlen optimistisch auf einen friedlichen Regierungswechsel. Auch viele Unternehmen und Investoren wünschten sich eine Ablösung des Regimes. Doch Präsident Nicolás Maduro hat deutlich gemacht, dass er trotz der umstrittenen Wahlen an der Macht bleiben will.

Das ist nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich eine bittere Enttäuschung: Denn unter stabilen rechtsstaatlichen Verhältnissen könnte das Karibikland in kürzester Zeit zu einer der am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften der Welt werden. Alejandro Arreaza von Barcleys schätzt, dass Venezuela unter einer neuen Regierung in den nächsten zwei Jahren zweistellig wachsen würde.

Der Karibikstaat verfügt nicht nur über die größten Ölreserven der Welt. Es hat nach zehn Jahren staatlicher Misswirtschaft einen enormen Nachholbedarf an Investitionen. Multilaterale Geldgeber und eine Aufhebung der US-Sanktionen könnten die Ölproduktion und die brachliegende einheimische Industrie in kurzer Zeit wieder ankurbeln.

Die USA hatten die Wirtschaftssanktionen gegen Venezuela wegen des Wahlbetrugs ab 2019 verschärft. Diese wurden im vergangenen Jahr gelockert, weil das Regime freie Wahlen versprach. Nun ist offen, ob die USA die Strafmaßnahmen wieder in Kraft setzen.

Seit vergangenem Jahr dürfen ausländische Ölkonzerne wie Chevron, Eni und Repsol wieder eingeschränkt Öl in Venezuela fördern. Die Lizenzen wurden gerade von den USA verlängert. Sie wären also von einer erneuten Verschärfung der Strafmaßnahmen nicht betroffen.

Venezuela erlebt seit rund drei Jahren eine wirtschaftliche Stabilisierung. Nach Angaben des Internationalen Währungsfonds (IWF) wird Venezuela in diesem Jahr um rund vier Prozent wachsen. Die Verbraucherinflation ist auf 160 Prozent gesunken. Der Dollar ist seit drei Jahren inoffizielles Zahlungsmittel.

Der Absturz Venezuelas von einer der reichsten Volkswirtschaften Lateinamerikas in 25 Jahren Linksregierung, erst unter Hugo Chávez und jetzt unter Maduro, ist gewaltig: Die Wirtschaftsleistung ist in elf Jahren um drei Viertel geschrumpft. Das jährliche Pro-Kopf-Einkommen liegt bei rund 8500 Dollar – etwa so viel wie in Bangladesch.

Um die Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen, müsste die Regierung eine Umschuldung der Auslandsschulden organisieren. Seit 2017 bedient Venezuela seine Schulden in Höhe von rund 150 Milliarden Dollar nicht mehr.

Doch der Weg zurück an die internationalen Finanzmärkte ist Venezuela versperrt: Die Gläubiger dürfen wegen der US-Sanktionen nicht mit Venezuela verhandeln. Doch erst nach einer Umschuldung könnten westliche Geldgeber wie Unternehmen wieder offiziell im Land investieren.

Auch Wirtschaftsanwälte in Caracas raten westlichen Unternehmen derzeit von Investitionen in Venezuela ab. Die rechtlichen Rahmenbedingungen seien nicht gesichert.

Die größten Hoffnungen setzt die Wirtschaft darauf, dass die leichte Erholung der Ölindustrie anhält und das Wachstum weiter stützt: So schätzt Barclays, dass Venezuelas maroder Ölsektor viele Möglichkeiten für eine kurzfristige und kostengünstige Sanierung bietet. Vor der Wahl prognostizierte die Investmentbank einen Anstieg der Ölproduktion von derzeit 850.000 auf zwei Millionen Barrel pro Tag bis 2030.

Es dürfte nun von der nächsten US-Regierung abhängen, welche Politik sie gegenüber Venezuela verfolgt – und damit, wie stark der Ölstaat wachsen wird.

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Wird Guyana das neue Katar Lateinamerikas?

Eines der kleinsten Länder Südamerikas wächst in atemberaubendem Tempo. Beim Pro-Kopf-Einkommen hat es Deutschland überholt. Das Interesse globaler Industriekonzerne, dort Fuß zu fassen, ist groß.

von Alexander Busch, Lateinamerika-Korrespondent für Handelsblatt und NZZ

 

Noch vor knapp zehn Jahren gehörte Guyana zu den ärmsten Ländern Südamerikas. Das Pro-Kopf-Einkommen des Karibikstaates lag kaum höher als in Bolivien oder Nicaragua. Das änderte sich 2015, als der Ölkonzern ExxonMobil vor der Küste riesige Ölvorkommen entdeckte. Vier Jahre später begann das Unternehmen dort mit der Ölförderung.

Rund 650.000 Barrel pro Tag produziert Guyana heute – fast so viel wie Venezuela, das Land mit den größten Ölreserven der Welt. Schon bald wird Guyana nach Brasilien und Mexiko an dritter Stelle der lateinamerikanischen Förderländer stehen. Gerade hat Exxon die Lizenz für ein sechstes Förderfeld 150 Kilometer vor der Küste erhalten. In drei Jahren wird Guayana dann mit 1,3 Millionen Barrel pro Tag so viel Öl fördern wie Katar heute.

Der Ölboom lässt die Wirtschaft rasant wachsen: Seit 2020 hat sich das Bruttoinlandsprodukt Guayanas verdreifacht. Im vergangenen Jahr wuchs Guyana um 62 Prozent, in diesem Jahr werden es rund 30 Prozent sein. Und das Wachstumstempo soll sich fortsetzen: Der Internationale Währungsfonds rechnet damit, dass Guyana mindestens bis 2028 jährlich um durchschnittlich 20 Prozent wachsen wird.

Seit 2022 fließen die Öleinnahmen in den Staatshaushalt. Inzwischen hat sich Guyanas Position im globalen Einkommensranking verbessert: Das Pro-Kopf-Einkommen der nur 800.000 Einwohner des Karibikstaates ist heute höher als das Deutschlands. Ende dieses Jahres könnte es kaufkraftbereinigt das der USA überholen.

In Guyanas Hauptstadt Georgetown ist von dem neuen Reichtum jedoch noch nicht viel zu sehen: Zwar wachsen neue Wohnsiedlungen, Hotels und Bürokomplexe in die Höhe. Doch die Hauptstadt mit ihren geschätzten 200.000 Einwohnern hat vom Ölboom bisher wenig mitbekommen – außer den hohen Preisen für Wohnen, Transport und Lebensmittel.

Umso größer ist das Interesse ausländischer Konzerne. In der Ölförderung, also im Upstream-Bereich, dominiert ExxonMobil mit seinem Konsortium aus Hess Corp. (USA) und Cnooc (China). Die gesamte Ölzulieferindustrie ist bereits im Land, auch aus Europa.

Aber auch im Nicht-Ölbereich der Wirtschaft sind ausländische Investoren aktiv. Der Einzelhandel hat in kurzer Zeit die Besitzer gewechselt. Heute dominieren chinesische Eigentümer die Supermärkte, aber auch die Bauindustrie. Indische Konzerne sind dort ebenso aktiv wie Investoren aus Katar, die in der Hauptstadt neue Hotels hochziehen.

In der Bevölkerung wächst die Ungeduld: Es gibt zu wenig Jobs, von den Öleinnahmen kommt kaum etwas bei den Menschen an, klagen viele. Einwanderer aus Venezuela und Brasilien werden als billige Arbeitskräfte den Einheimischen vorgezogen.

Wohin Guyana mit dem plötzlichen Reichtum steuert, ist noch nicht abzusehen: Der ehrgeizige Präsident Irfaan Ali scheint aus Guyana eine Art Katar in Südamerika machen zu wollen.

Negative Vorbilder, wie es Guyana nicht machen sollte, hat die Regierung in der Nachbarschaft: Venezuela ist trotz großer Ölreserven ein Land, aus dem die Bevölkerung seit zehn Jahren in Massen auswandert. Auch Trinidad & Tobago vor der Haustür hat wenig aus seinen Reserven gemacht, um die Armut seiner Bevölkerung zu lindern.

Georgetown
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Steht Bolivien vor einer Phase politischer Instabilität?

Das Land verfügt über die größten Lithiumreserven der Welt. Doch westliche Unternehmen kommen bislang nicht zum Zug. Konzerne aus China und Russland sind weiter. Nun könnte Bolivien Teil der BRICS werden.

von Alexander Busch, Lateinamerika-Korrespondent für Handelsblatt und NZZ

 

Bolivien galt lange als das Land der chronischen Militärputsche. Seit 1950 war das Militär an 23 Staatsstreichen beteiligt. Doch seit fast zwanzig Jahren hatten sich die Streitkräfte des Andenlandes weitgehend aus der Politik zurückgezogen. Mit dem mutmaßlichen Putschversuch letzte Woche haben sie sich als politischer Akteur zurückgemeldet.

Grund dafür ist das politische Vakuum, das seit rund zwei Jahren in Bolivien herrscht. Präsident Luis Arce und der mehrfache Ex-Präsident Evo Morales liefern sich einen erbitterten Machtkampf. Beide sind langjährige Weggefährten: Arce war von 2006 bis 2019 Wirtschafts- und Finanzminister unter Präsident Morales.

Nun wollen beide bei den Wahlen im August nächsten Jahres erneut für das Präsidentenamt kandidieren. Für Morales wäre es das dritte Mal, was ihm die Verfassung verbietet. Bereits als Präsident hatte er die gesetzlichen Beschränkungen für eine Wiederwahl mehrfach zu seinen Gunsten ändern lassen und so 13 Jahre regieren können.

Doch 2019 scheiterte Morales mit dem Versuch, sich wiederwählen zu lassen. Es hieß, die Wahlen seien manipuliert worden. Die Bevölkerung protestierte. Es kam zu gewaltsamen Zusammenstößen. Das Militär forderte Morales auf, das Land zu verlassen. Morales floh ins Exil. Morales und seine Partei Movimento al Socialismo (MAS) betrachten die damalige Amtsenthebung als Putsch.

Nach der Wahl seines Nachfolgers Arce kehrte Morales jedoch nach Bolivien zurück und kündigte an, 2025 erneut zu kandidieren. Präsident Acre wiederum argumentiert, nur er könne als legitimer Kandidat antreten.

Seitdem schadet der Streit der einstigen Weggefährten Bolivien zunehmend – politisch wie wirtschaftlich.

Morales gelingt es, mit seiner starken Basis in der MAS die Regierung im Kongress zu blockieren. So kann Präsident Arce keine Kreditverträge mit Entwicklungsbanken unterzeichnen und vom Kongress ratifizieren lassen. Dem Land gehen die Dollars aus. Einst wichtige Devisenbringer und Steuerquellen wie die Erdgasindustrie produzieren immer weniger. Seit Jahren wird immer weniger in die Förderung investiert.

Russland und China wollen von der instabilen Lage profitieren. Konzerne aus beiden Ländern haben im vergangenen Jahr Konzessionsverträge mit dem staatlichen bolivianischen Lithiumkonzern vereinbart. Rund 1,5 Mrd. Dollar wollen die Unternehmen in Bolivien investieren.

Für Russland ist die Investition strategisch wichtig: Es wäre für Moskau die einzige potenzielle Bezugsquelle für Lithium weltweit. China hingegen hat bereits in zahlreiche südamerikanische Lagerstätten und die Lithiumproduktion in Argentinien, Chile und Brasilien investiert.

China und Russland wollen Bolivien nun auch politisch stärker an sich binden: Beide Staaten werden sich dafür einsetzen, dass Bolivien neues Mitglied der BRICS in Südamerika wird, also des von China dominierten Staatenbundes des „Globalen Südens“, hieß es. Bolivien ist bereits Teil der chinesischen Belt-and-Road-Initiative.

Argentinien unter Präsident Milei hat die angebotene BRICS-Mitgliedschaft abgelehnt. Bolivien wäre der Ersatzkandidat. Es zeichnet sich ab, dass China und Russland die politische Krise in Bolivien nutzen werden, um ihre Präsenz dort auszubauen.

In Lateinamerika gibt es zahlreiche Beispiele dafür, wie gewählte Präsidenten schnell aus dem Schatten ihrer politisch gleichgesinnten Vorgänger traten und deren Politik ganz anders fortsetzten als erwartet.

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Mexiko vor ungewisser Zukunft mit Claudia Sheinbaum

Die künftige Präsidentin Mexikos mit ihrer Partei wird mehr Macht haben als die meisten Präsidenten vor ihr. Auf diese Machtfülle reagieren die Finanzmärkte nervös. Deutsche Firmen setzen weiter auf das Land.

von Alexander Busch, Lateinamerika-Korrespondent für Handelsblatt und NZZ

 

Die Wahlen in Mexiko waren das mit Abstand wichtigste politische Ereignis in Lateinamerika in diesem Jahr – das gilt auch für die deutsche Wirtschaft. Zum einen geht es um die nach Brasilien größte Volkswirtschaft der Region, mit der der Handel – anders als mit den meisten Staaten Lateinamerikas – jährlich stark wächst.

Zum anderen ist Mexiko in den letzten Jahren für deutsche Unternehmen zu einem immer wichtigeren Standort in Lateinamerika geworden. Der Grund: Durch die Einbindung in das Freihandelsabkommen USMCA mit den USA und Kanada haben Unternehmen von Mexiko aus Zugang zum größten Binnenmarkt der Welt. Der Außenhandel zwischen Mexiko und den USA ist mit über 800 Mrd. US-Dollar der größte der Welt. Mexiko hat China als wichtigsten Lieferanten für den US-Markt überholt.

Nach Umfragen der Deutsch-Mexikanischen Außenhandelskammer beurteilen mehr als die Hälfte der Mitgliedsunternehmen ihre wirtschaftliche Lage als gut. Drei Viertel wollen ihre Investitionen in den nächsten zwölf Monaten erhöhen oder auf gleichem Niveau halten.

Umso entscheidender ist es, wie sich Mexiko in den kommenden sechs Jahren unter Sheinbaum entwickeln wird. Doch Prognosen sind schwierig.

Zum einen ist die Physikerin Sheinbaum bisher kaum mit eigenen Ideen in Erscheinung getreten. Immer wieder betont sie, die Politik ihres Vorgängers und politischen Ziehvaters Andrés Manuel López Obrador (AMLO) fortsetzen zu wollen. Dies hat zum einen wahltaktische Gründe: Der amtierende Präsident Amlo ist auch wenige Monate vor dem Ende seiner Regierungszeit enorm erfolgreich. Mehr als die Hälfte der mexikanischen Wählerschaft steht hinter dem Linkspopulisten.

Das erklärt auch, warum sich seine linksnationalistische „Nationale Erneuerungsbewegung“ (Morena) sowohl mit ihrer Kandidatin Sheinbaum durchsetzen als auch bei den parallel stattfindenden Parlamentswahlen einen überwältigenden Sieg erringen konnte.

Zusammen mit ihren Bündnispartnern verfügt die Partei künftig über Zweidrittelmehrheiten im Kongress, die es der Regierungspartei erlauben, Verfassungsänderungen praktisch im Alleingang und ohne Konsens mit anderen politischen Kräften vorzunehmen. Dazu kontrolliert Morena künftig 24 der 31 Bundesstaaten. Eine solche Machtkonzentration hatte über viele Jahrzehnte nur die Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI). Es scheint, als würde Morena das Erbe der PRI antreten.

Denn mit dem Wahlergebnis hat Sheinbaum nun freie Hand zu regieren. Die Frage ist, ob sie dem Kurs ihres Vorgängers López Obrador folgen wird.

Denn der hat sich in seinen sechs Jahren an der Macht als Linkspopulist erwiesen, der sich wenig um demokratische Kontrollen und die Justiz schert, solange er davon überzeugt ist, dass seine Politik dem Volk (und seiner Popularität) nützt. Bislang konnten Justiz, Kongress und Medien ihn in seinem Streben nach exekutiver Machtkonzentration immer wieder bremsen. Doch damit ist es nun vorbei.

So versuchte Amlo, zahlreiche unabhängige Institutionen zu entmachten. Er strebte eine Justizreform an, die ein Plebiszit über die Besetzung der obersten Richter vorsah. Er versuchte, den Einfluss des Wahlgerichts einzuschränken. Sheinbaum und die Morena-Partei hätten nun freie Bahn, diese Reformen umzusetzen.

Entsprechend negativ reagierten die Finanzmärkte auf den Wahlausgang: Der Dollar legte gegenüber dem Peso zeitweise um 7 Prozent zu. Die Börse brach ein, erholte sich aber wieder. Das Länderrisiko Mexikos, gemessen an den Zinsaufschlägen, die Anleiheinvestoren verlangen, ist deutlich gestiegen.

Investoren befürchten, dass die Morena-Partei die staatliche Kontrolle über die Wirtschaft ausweiten und das Haushaltsdefizit durch eine ungebremste staatliche Ausgabenpolitik erhöhen könnte. Schon Lopez Obrador wollte die Wirtschaft zunehmend staatlich lenken: Mit staatlichen Milliardenprojekten in der Infrastruktur und im Energiesektor setzte er durch, dass private Investoren das Nachsehen hatten. Das Militär ist unter ihm zu einem wichtigen Akteur in der Wirtschaft geworden.

Europäische Investoren stört zudem, dass López Obrador die zuvor mühsam ausgehandelte Wende hin zu einer emissionsfreien Stromerzeugung komplett rückgängig gemacht hat. Amlo setzte in seiner Energiepolitik vor allem auf Kohle und Öl.

Das ist auch einer der Gründe, warum das bereits abgeschlossene Abkommen zwischen der EU und Mexiko in Europa nicht ratifiziert wird. Von Sheinbaum erhoffen sich vor allem ausländische Unternehmen eine Revision der wenig klimafreundlichen Wirtschafts- und Standortpolitik Amlos. Sheinbaum hat als Wissenschaftlerin in Mexiko und den USA zur Klimapolitik geforscht. Sie gilt als renommierte Umweltexpertin.

Mit Sheinbaum könnte Mexiko auch wieder eine größere Rolle in der Welt spielen. Amlo hatte sich außer für die Beziehungen zu den USA nicht für Außenpolitik interessiert. Während seiner Amtszeit trat Mexiko in internationalen Gremien kaum in Erscheinung, obwohl Mexikos wirtschaftliches und politisches Gewicht in der Welt zugenommen hat. Mit 130 Millionen Einwohnern ist Mexiko heute die 14. größte Volkswirtschaft der Welt, noch vor Spanien.

Die entscheidende Auseinandersetzung im Außenhandel und als Standort dürfte Mexiko mit den USA bevorstehen: Dort stören sich Verbände und Regierung daran, dass vor allem chinesische Konzerne versuchen, die zunehmende Abschottungspolitik der USA gegenüber Peking durch ihre Produktion in Mexiko zu umgehen. In zwei Jahren soll das USMCA-Abkommen einer gemeinsamen Überprüfung unterzogen werden. Auch europäische Unternehmen werden das Ergebnis der Neuverhandlungen genau beobachten.

In ihrer ersten Rede als gewählte Präsidentin setzte Sheinbaum deutliche wirtschaftliche Akzente. Sie verteidigte die Autonomie der Zentralbank und die Haushaltsdisziplin. Sie wolle Investitionen in erneuerbare Energien fördern. All dies wäre eine Abkehr von der Politik Amlos.

In Lateinamerika gibt es zahlreiche Beispiele dafür, wie gewählte Präsidenten schnell aus dem Schatten ihrer politisch gleichgesinnten Vorgänger traten und deren Politik ganz anders fortsetzten als erwartet.

Mexiko Stadt
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Weiterhin gibt es viele Demokratien in Lateinamerika, deren Qualität nimmt jedoch ab

Nach Europa und Nordamerika bleibt Lateinamerika die Region mit der höchsten Demokratiedichte weltweit. Doch vor allem die fehlende Sicherheit führt dazu, dass autoritäre Regierungen toleriert werden.

von Alexander Busch, Lateinamerika-Korrespondent für Handelsblatt und NZZ

 

Seit acht Jahren verlieren die Demokratien in Lateinamerika stetig weiter an Qualität. Letztes Jahr stieg die Region weltweit am stärksten ab unter den Kontinenten auf dem Demokratie-Index der Economist Intelligence Unit (EIU). In zwei Drittel der 24 vom Institut erfassten Staaten nahmen die Defizite der Demokratie zu.

Trotzdem bleibt Lateinamerika nach Nordamerika und Europa die Nummer 3 unter den Kontinenten mit der höchsten Zahl an Demokratien. Diesen Widerspruch erklären die Experten damit, dass Lateinamerika und die Karibik im weltweiten Vergleich gute Wahlverfahren, eine hohe politische Partizipation und die meisten bürgerliche Freiheiten haben – jedoch die schlechteste Bewertung für die politische Kultur und die Funktionalität der Regierungen.

Die größten Rückschritte erlebten mittelamerikanische Staaten El Salvador, Guatemala, Nicaragua und Haiti. Heute leben neun Prozent der 240 Millionen Menschen in der Region in Diktaturen. Zu Kuba, Venezuela, Nicaragua zählen die Experten vom EIU auch den Karibikstaat Haiti. Nicaragua und Venezuela rangieren heute auf dem Demokratie-Niveau von Russland.

Nur rund ein Prozent der Menschen in Lateinamerika leben in entwickelten Demokratien. Das sind die Bürger in Costa Rica und Uruguay. Das lange Zeit ebenfalls vom EIU als vollständige Demokratie gewertete Chile ist zu einer „lückenhaften Demokratie“ („flawed democracy“) abgestiegen. EIU macht dafür vor allem den wachsenden Einfluss von nicht gewählten Experten im demokratischen Prozess verantwortlich.

Mehr als die Hälfte (54 Prozent) der Bürgerinnen und Bürger Lateinamerikas leben in mangelhaften Demokratien. Darunter sind die bevölkerungsreichen Staaten wie Brasilien, Argentinien und Kolumbien. Mexiko stuft das EIU als eine „hybride Demokratie“ ein, wo die Demokratie auch autoritäre Elemente enthält.

Nur in drei Staaten haben demokratische Elemente zugenommen – wenn auch auf niedrigem Niveau: In Paraguay, der Dominikanischen Republik und Venezuela verbesserten sich die Kennzahlen.

Uruguay ist erneut der Spitzenreiter in der Region und steht im weltweiten Index auf Platz 14, also etwa dem gleichen Niveau wie Australien oder Japan. Costa Rica (17) rangiert vor Österreich und deutlich vor Spanien oder Frankreich.

Als die größte Bedrohung der Demokratien in Lateinamerika sieht der EIU die wachsenden Sicherheitsprobleme in der Region. Die Bevölkerungen in den Staaten tolerieren zunehmend autoritäre Regierungen, die auf die fehlende Sicherheit mit dem Abbau von Grundrechten reagieren. Beispiel dafür ist El Salvadors Präsident Nayib Bukele, der dabei ist, sein Land in eine Diktatur zu verwandeln – und von rund 80 Prozent der Bevölkerung dabei unterstützt wird. In Ecuador ist Präsident Daniel Noboa dabei, den gleichen Weg zu gehen.

Dieser Trend könnte sich in Lateinamerika verstärken, fürchtet EIU: Drei der zehn gefährlichsten Staaten weltweit befinden sich in der Region. Das sind Mexiko, Brasilien und Kolumbien. Sechs von zehn Staaten, in denen die Bevölkerung die fehlende Sicherheit als größtes Problem einschätzt, sind in Lateinamerika.

Ein Vorteil in Lateinamerika ist, dass es keine Kriege zwischen den Staaten gibt. „Bisher“ schreibt EIU und verweist auf die angedrohte Besetzung großer Teile Guyanas durch Venezuela.

Problematisch ist, dass die Wahlkämpfe zunehmend gewalttätiger werden, wie zuletzt in Ecuador und derzeit Mexiko.

Uruguay
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