Wird Guyana das neue Katar Lateinamerikas?
Eines der kleinsten Länder Südamerikas wächst in atemberaubendem Tempo. Beim Pro-Kopf-Einkommen hat es Deutschland überholt. Das Interesse globaler Industriekonzerne, dort Fuß zu fassen, ist groß.
von Alexander Busch, Lateinamerika-Korrespondent für Handelsblatt und NZZ
Noch vor knapp zehn Jahren gehörte Guyana zu den ärmsten Ländern Südamerikas. Das Pro-Kopf-Einkommen des Karibikstaates lag kaum höher als in Bolivien oder Nicaragua. Das änderte sich 2015, als der Ölkonzern ExxonMobil vor der Küste riesige Ölvorkommen entdeckte. Vier Jahre später begann das Unternehmen dort mit der Ölförderung.
Rund 650.000 Barrel pro Tag produziert Guyana heute – fast so viel wie Venezuela, das Land mit den größten Ölreserven der Welt. Schon bald wird Guyana nach Brasilien und Mexiko an dritter Stelle der lateinamerikanischen Förderländer stehen. Gerade hat Exxon die Lizenz für ein sechstes Förderfeld 150 Kilometer vor der Küste erhalten. In drei Jahren wird Guayana dann mit 1,3 Millionen Barrel pro Tag so viel Öl fördern wie Katar heute.
Der Ölboom lässt die Wirtschaft rasant wachsen: Seit 2020 hat sich das Bruttoinlandsprodukt Guayanas verdreifacht. Im vergangenen Jahr wuchs Guyana um 62 Prozent, in diesem Jahr werden es rund 30 Prozent sein. Und das Wachstumstempo soll sich fortsetzen: Der Internationale Währungsfonds rechnet damit, dass Guyana mindestens bis 2028 jährlich um durchschnittlich 20 Prozent wachsen wird.
Seit 2022 fließen die Öleinnahmen in den Staatshaushalt. Inzwischen hat sich Guyanas Position im globalen Einkommensranking verbessert: Das Pro-Kopf-Einkommen der nur 800.000 Einwohner des Karibikstaates ist heute höher als das Deutschlands. Ende dieses Jahres könnte es kaufkraftbereinigt das der USA überholen.
In Guyanas Hauptstadt Georgetown ist von dem neuen Reichtum jedoch noch nicht viel zu sehen: Zwar wachsen neue Wohnsiedlungen, Hotels und Bürokomplexe in die Höhe. Doch die Hauptstadt mit ihren geschätzten 200.000 Einwohnern hat vom Ölboom bisher wenig mitbekommen – außer den hohen Preisen für Wohnen, Transport und Lebensmittel.
Umso größer ist das Interesse ausländischer Konzerne. In der Ölförderung, also im Upstream-Bereich, dominiert ExxonMobil mit seinem Konsortium aus Hess Corp. (USA) und Cnooc (China). Die gesamte Ölzulieferindustrie ist bereits im Land, auch aus Europa.
Aber auch im Nicht-Ölbereich der Wirtschaft sind ausländische Investoren aktiv. Der Einzelhandel hat in kurzer Zeit die Besitzer gewechselt. Heute dominieren chinesische Eigentümer die Supermärkte, aber auch die Bauindustrie. Indische Konzerne sind dort ebenso aktiv wie Investoren aus Katar, die in der Hauptstadt neue Hotels hochziehen.
In der Bevölkerung wächst die Ungeduld: Es gibt zu wenig Jobs, von den Öleinnahmen kommt kaum etwas bei den Menschen an, klagen viele. Einwanderer aus Venezuela und Brasilien werden als billige Arbeitskräfte den Einheimischen vorgezogen.
Wohin Guyana mit dem plötzlichen Reichtum steuert, ist noch nicht abzusehen: Der ehrgeizige Präsident Irfaan Ali scheint aus Guyana eine Art Katar in Südamerika machen zu wollen.
Negative Vorbilder, wie es Guyana nicht machen sollte, hat die Regierung in der Nachbarschaft: Venezuela ist trotz großer Ölreserven ein Land, aus dem die Bevölkerung seit zehn Jahren in Massen auswandert. Auch Trinidad & Tobago vor der Haustür hat wenig aus seinen Reserven gemacht, um die Armut seiner Bevölkerung zu lindern.