Wird Lateinamerika vom Abzug der US-Unternehmen aus China profitieren?

Die Hoffnungen auf positive Effekte des Nearshoring in Lateinamerika sind groß: Die Interamerikanische Entwicklungsbank erwartet, dass die Region kurz- und mittelfristig davon profitieren wird. Doch dafür müssen die Regierungen die richtigen Voraussetzungen schaffen.

von Alexander Busch, Lateinamerika-Korrespondent für Handelsblatt und NZZ

 

Die zunehmende Sorge um die Umwelt, die Pandemie, die Handelsstreitigkeiten zwischen den USA und China sowie der jüngste Einmarsch Russlands in der Ukraine haben die Wertschöpfungsketten weltweit durcheinandergewirbelt. Unternehmen in den Industrieländern überlegen, ihre Zulieferer näher bei sich anzusiedeln.

Nach Schätzungen der Interamerikanischen Entwicklungsbank (IDB) könnte Nearshoring in Lateinamerika und der Karibik kurz- und mittelfristig zu zusätzlichen Waren- und Dienstleistungsexporten in Höhe von jährlich 78 Mrd. Dollar führen. Das gilt vor allem für die Branchen Automobil, Textil, Pharma und für erneuerbare Energien.

Das wäre ein wichtiger Rückenwind für Lateinamerika: Denn die Integration in globale Wertschöpfungsketten erhöht die Produktivität der lokalen Ökonomie durch Technologie- und Wissenstransfer und schafft hochwertige Arbeitsplätze. Steigert ein Land seine weltweite Integration um 10 Prozent, dann erhöht sich das Pro-Kopf-BIP um 11 bis 14 Prozent schätzt die IDB.

Doch die Staaten müssen ihrerseits etwas dafür machen, um eine attraktive Alternative zu den Standorten in Fernost zu werden. Sie sollten in Verbesserungen des Geschäftsklimas und der Kapazitäten von Investitions- und Exportförderungsagenturen investieren. Die IDB schätzt, dass jeder Dollar, der in die Investitionsförderung investiert wird, fast 42 Dollar an ausländischen Direktinvestitionen nach sich zieht.

Die Verbesserung der Transport- und Logistikinfrastruktur ist kurzfristig entscheidend: Nach Schätzungen der IDB erhöht eine Senkung der internationalen Transportkosten um zehn Prozent den Wert der Exporte um mindestens 30 Prozent.

Zudem muss die Region muss ihre regionale Integration vertiefen: Allein die 33 existierenden bilateralen und -regionalen Handelsabkommen zwischen Nord- und Südamerika sollten harmonisiert werden. Schon dies würde zu einem Anstieg des intraregionalen Handels um fast 12 Prozent führen.

Betrachtet man das Potenzial, welches die IDB für die einzelnen Staaten Lateinamerikas errechnet hat, dann werden die größten Zuwächse im Verhältnis zur Größe der Ökonomien in Mexiko, Zentralamerika und der Karibik anfallen. Der Prozess lässt sich jetzt schon beobachten: Tatsächlich haben sich die US-Investitionen in Mexiko im Jahr 2021 verdreifacht gegenüber dem Vorjahr. Auch während der Pandemie sind die ausländischen Direktinvestitionen kaum zurückgegangen.

Doch ansonsten sieht die Realität der Auslandsinvestitionen bisher noch ganz anders aus. Nach den neuesten Erhebungen der Welthandels- und Entwicklungskonferenz UNCTAD sind die ausländischen Direktinvestitionen im letzten Jahr in Lateinamerika um 56 Prozent gestiegen, in Südamerika jedoch deutlich mehr: um 74 Prozent. Damit haben sie den Rückgang von 45 Prozent im ersten Pandemiejahr 2020 wieder neutralisiert.

Der Grund: Die ausländischen Konzerne investieren vor allem in Rohstoffe, Energie und lokale Märkte. Vor allem Brasilien hat seine ausländischen Investitionen um 78 Prozent steigern können. Es steht damit auf Platz 6 der Liste der Staaten, in die ausländische Konzerne weltweit am meisten investiert haben. Mexiko rangiert weiterhin auf Platz 10, stagniert aber.

Port of Los Angeles
© Unsplash/Barrett Ward

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