Kann Brasilien zur „Schweiz Lateinamerikas“ werden?

In den letzten Tagen häufen sich die positiven Meldungen über die brasilianische Wirtschaft. Im Land selbst streiten sich Regierung und Kongress über die Weichenstellungen in der Wirtschaftspolitik.

von Alexander Busch, Lateinamerika-Korrespondent für Handelsblatt und NZZ

 

Derzeit findet in Brasilien ein Stimmungsumschwung in der Wirtschaft statt: Anfang Juni meldete das Statistikamt IBGE für das erste Quartal Wachstumszahlen, die fast doppelt so hoch ausfielen, wie sie die meisten Investmentbanken erwartet hatten.

Um 4 Prozent hat die brasilianische Wirtschaft gegenüber dem Vorjahreszeitraum zugelegt. Vor allem die Landwirtschaft hat mit einem Plus von knapp 19 Prozent in zwölf Monaten zu diesem Schub beigetragen. Das stagnierende Brasilien befand sich damit plötzlich unter den vier wachstumsstärksten Volkswirtschaften weltweit, nach einer Erhebung von Austin Rating.

Investmentbanken wie Goldman Sachs rechnen jetzt damit, dass Brasilien 2023 statt 1,9 nun 2,6 Prozent wachsen wird. Auch andere Investmentbanken beeilen sich, ihre Prognosen zu Brasilien nach oben zu korrigieren.

Die Investmentbank Verde Asset Management sieht zum ersten Mal seit Jahren wieder ein Potenzial für Wertzuwächse bei brasilianischen Aktien und Anleihen. Die sonst eher skeptischen Analysten von Verde rechnen damit, dass der Real stärker wird und die hohen Leitzinsen (derzeit: 13,75 Prozent) bald sinken werden, weil die Inflation ebenfalls (3,94 Prozent in zwölf Monaten) an Kraft verliert. Mit dem gerade im Kongress vorliegenden Gesetzespaket für Haushaltsregeln habe die linke Regierung Lula das Risiko minimiert, dass sie die Ausgaben überproportional steigern werde, so die Analysten.

Gute Aussichten für Brasilien sieht auch Robin Brooks, Präsident des Institute of International Finance (IIF). Brasilien sei aufgrund seines beeindruckenden Handelsbilanzüberschusses und der erreichten außenwirtschaftlichen Stabilität auf dem besten Weg, die „Schweiz Lateinamerikas“ zu werden. Es entstehe ein enormer Handelsbilanzüberschuss, wie ihn kein anderes Land in der Region habe. „Dies wird Brasilien außenwirtschaftliche Stabilität und eine starke Währung verleihen“, erklärte der ehemalige Goldman-Sachs-Stratege auf Twitter. Brooks glaubt zudem, dass Brasilien zum „Anker der Region“ werden könnte, als ein Land, das eine grundlegende Rolle für die wirtschaftliche und finanzielle Stabilität Lateinamerikas spielen wird.

Die gute Stimmung auf den Finanzmärkten kontrastiert mit dem geringen Enthusiasmus, mit dem die Unternehmer die Regierung Lula betrachten. Aus Sicht der Wirtschaft scheint der Präsident vor allem den Ehrgeiz zu haben, die positiven wirtschaftlichen Reformen zurückzudrehen, die sein rechtspopulistischer Vorgänger Jair Bolsonaro umgesetzt hat.

Er attackiert die Zentralbank wegen der hohen Zinsen und würde sie genauso am liebsten wieder unter staatliche Kontrolle stellen wie den gerade erst privatisierten Energiekonzern Eletrobras oder die Wasserwirtschaft. Beim Ölkonzern Petrobras wie der nationalen Entwicklungsbank BNDES hat die Regierung den politischen Einfluss bereits wieder deutlich ausgeweitet.

Doch Lulas Ansinnen, die Uhr in der staatlichen Wirtschaftspolitik wieder zurückzudrehen, bremst der konservative Kongress aus. Das macht Hoffnungen für die Reformagenda. Denn entscheidend für die weitere wirtschaftliche Entwicklung Brasiliens wird die geplante Steuerreform sein. Ein erster Entwurf soll nach dem Willen von Regierung und Kongress in den nächsten Wochen eingereicht werden.

Einhellig sind Ökonomen der Meinung, dass eine Steuerreform für Brasiliens Industrie eine der besten Maßnahmen wäre, um die Produktivität kurzfristig deutlich zu steigern. Die Aussichten sind gut, dass Brasilien jetzt dabei einen Schritt vorankommen könnte.

Sao Paulo Financial Centre
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