Brasiliens neue Neutralität als Chance für Europa
Das Land justiert derzeit seine Position in der Weltpolitik neu. Seine geopolitische Neutralität könnte zum strategischen Vorteil für den wichtigsten Investitionsstandort der deutschen Wirtschaft in Südamerika werden.
von Alexander Busch, Lateinamerika-Korrespondent für Handelsblatt und NZZ
Brasiliens Diplomatie ist in diesen Tagen gefordert. Innerhalb eines Monats finden mehrere wichtige Treffen statt, bei denen das Land deutlich machen muss, welche Position es in der Weltpolitik und damit auch in der Weltwirtschaft anstrebt.
Die Ereignisse sind hochkarätig: Den Auftakt macht der BRICS+-Gipfel in Russland – das erste Treffen nach der Erweiterung des Staatenbundes. Das APEC-Forum (Asia-Pacific Economic Cooperation) vom 10. bis 16. November in Peru ist wichtig für die künftige Anbindung Brasiliens in Südamerika und an den asiatischen Markt. Beim G20-Gipfel in Rio de Janeiro (18.-19. November) ist Brasilien Gastgeber. Unmittelbar danach besucht der chinesische Staatschef Xi Jinping Brasilien anlässlich des 50-jährigen Jubiläums der brasilianisch-chinesischen Beziehungen.
Es ist davon auszugehen, dass Brasilien bei diesen Anlässen versuchen wird, eine geopolitisch neutrale Position zu demonstrieren, vergleichbar mit der Rolle eines blockfreien Staates. Angesichts der zunehmenden Verschärfung der weltpolitischen Konfrontationen ist dies ein schwieriges Unterfangen – und wird viele enttäuschen, die von Brasilien eine klare weltpolitische Lagerzuordnung erwarten.
So hat die brasilianische Regierung mit ihrer Parteinahme für Russland, Venezuela und Palästina in den USA und Europa Sympathien verspielt. Der von Brasilien und China gemeinsam vorgelegte „Friedensplan“ für die Ukraine, der vor allem russische Interessen berücksichtigt, hat die Zweifel im demokratischen Westen noch verstärkt.
Gleichzeitig hat sich Brasilien aber bisher den Umarmungsversuchen Chinas widersetzt. Peking drängt Brasilien zur Unterzeichnung eines Seidenstraßen-Abkommens, um chinesischen Investoren besseren Zugang zu verschaffen. Doch Brasília will Technologiezugang und verlässliche Investitionszusagen, die China bisher weder angeboten hat noch garantieren will.
Zudem verhandelt Brasilien mit China aus einer Position der Stärke: China ist zwar Brasiliens größter Handelspartner. China ist aber gerade wegen der Konfrontation mit den USA auf Nahrungsmittel- und Ölimporte aus Brasilien angewiesen.
Inwieweit es Brasilien in Zukunft gelingen wird, weltpolitisch „neutral“ zu bleiben, entscheidet sich nicht nur in Brasília, sondern auch mit der politischen Entwicklung etwa in Washington und Peking in den nächsten Jahren.
In Europa sollten wir das brasilianische Streben nach Äquidistanz zu den neuen und alten Machtblöcken aber auch als Chance begreifen. Aus drei Gründen:
Erstens: Brasiliens Neutralität könnte sich bei einer Verschärfung des Kräftemessens zwischen neuen und alten Großmächten als positiver Standortfaktor erweisen. Brasilien wird versuchen, weiterhin mit der ganzen Welt Handel zu treiben und im Gespräch zu bleiben. Europäische Unternehmen sollten dies bei der Reorganisation ihrer Wertschöpfungsketten unter dem Stichwort „Nearshoring“ berücksichtigen.
Zweitens: Brasilien wird als Exporteur in der Weltwirtschaft wichtiger: Das Land wird als Produzent und globaler Lieferant von Nahrungsmitteln, Industrierohstoffen sowie konventioneller und nachhaltiger Energie an Bedeutung gewinnen.
Drittens: Und nicht zuletzt: Brasilien ist wie die wirtschaftlich wichtigsten Staaten Südamerikas eine Demokratie. Es gibt keine Anzeichen, dass sie dies ändern wollen.
Vor diesem Hintergrund wäre der Abschluss des EU-Mercosur-Abkommens umso wichtiger, denn es wäre eine Win-Win-Situation für beide Seiten. Beide Regionen würden ihr geopolitisches Gewicht durch die Gründung der größten Wirtschaftsgemeinschaft der Welt deutlich erhöhen. Dies sollte sowohl im Interesse Südamerikas als auch Europas sein.