Europas Industrie braucht dringend eine Strategie für Lateinamerika

Die Region orientiert sich immer mehr nach Fernost – nicht nur China wird immer wichtiger, auch die anderen asiatischen Wachstumsländer gewinnen rasant an Gewicht im Handel und bei den Investitionen. Europa verliert an Bedeutung.

von Alexander Busch, Lateinamerika-Korrespondent für Handelsblatt und NZZ

 

70 Kilometer nördlich von Lima beginnt der chinesische Hafenbetreiber Cosco Shipping Ports gerade mit dem Neubau eines Hafens. Investitionsvolumen: 3 Milliarden Dollar. Ab 2023 soll der Betrieb in Chancay starten. Mit seiner Kapazität dürfte er dann in Zukunft den Hafen von San Antonio in Chile einholen, zur Zeit der wichtigste Pazifikhafen Südamerikas.

Chancay soll eine Schlüsselrolle bei Südamerikas „natürlicher Erweiterung“ von Chinas „Belt and Road Initiative“ spielen. Erst 2017 hat China Lateinamerika als strategischen Partner der Initiative eingestuft. Inzwischen haben 19 Länder ein Abkommen mit Peking unterzeichnet.

In Europa wird leicht übersehen, dass nicht nur der Handel zwischen China und Südamerika wachsen wird. Die Infrastruktur der neuen Seidenstraße wird auch den Austausch Südamerikas mit ganz Asien beschleunigen.

Marcos Troyjo, der brasilianische Präsident der Neuen Entwicklungsbank (NDB), die 2015 von den BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) mit Sitz in Shanghai gegründet wurde, hat gerade in der brasilianischen Zeitung Estado de São Paulo darauf hingewiesen, dass Asien derzeit Europa abhängt im Außenhandel mit Südamerika. Danach habe allein Brasilien in den letzten 12 Monaten mehr nach Asien exportiert (selbst wenn man China und Japan nicht berücksichtige) als in die Europäische Union. Troyjo vergleicht die Volumen eindrücklich: Danach exportiere Brasilien heute mehr nach Singapur als nach Deutschland. Mehr nach Südkorea als nach Spanien. Mehr nach Malaysia als nach Italien, mehr nach Indien als nach Großbritannien. Mehr nach Thailand als nach Frankreich. Mehr nach Bangladesch als nach Australien, Dänemark, Finnland, Österreich und Israel zusammen.

Im Jahr 2001 tauschten Brasilien und China Waren im Wert von einer Milliarde Dollar pro Jahr. Heute seien es alle 60 Stunden eine Milliarde Dollar, sagt Troyjo. Es ist abzusehen, dass die schnell wachsenden asiatischen Emerging-Markets einen ähnlichen Exportboom in Südamerika auslösen, wie das China vor 20 Jahren getan hat. Denn Südamerikas Bergbau- und Agrokonzerne liefern die industriellen Rohstoffe für den Ausbau der Infrastruktur, der Ballungsräume und Industrie in Fernost. Sie bieten aber auch die commodities für die Ernährung der aufsteigenden Mittelschichten in diesen Ländern.

Mit den Exporten werden auch die asiatischen Investitionen in die Infrastruktur Südamerikas massiv steigen. Rohstoffe haben nur einen Wert, wenn sie transportiert werden können. Der Chancay-Hafen in Peru ist das neueste Beispiel dafür.

Die Kredite und Finanzierungen für die Investitionen werden ebenfalls zunehmend aus Fernost kommen. So hat die Neue Entwicklungsbank gerade mit der Erweiterung ihrer Mitgliedschaft begonnen. Seit dieser Woche sind die Vereinigten Arabischen Emirate, Uruguay und Bangladesch neue Mitgliedsländer in der NDB.

Europas Industrie muss dringend eine Strategie entwickeln, wie sie auf die gewaltige Verschiebung der globalen Wirtschaftsachsen in Südamerika reagieren soll.

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