Chiles Experiment könnte Vorbild für ganz Lateinamerika werden
Es ist zu erwarten, dass die Proteste in Lateinamerika wieder zunehmen. Chile versucht, jetzt mit einer Verfassungsversammlung als Ventil für den aufgeladenen Volkszorn Druck abzubauen. Ob es gelingt, ist offen. Im Andenland beginnt am Wochenende ein spannendes Experiment in Sachen Demokratie.
von Alexander Busch, Lateinamerika-Korrespondent für Handelsblatt und NZZ
Chile wählt jetzt eine verfassungsgebende Versammlung. 155 Mitglieder, je zur Hälfte Frauen und Männer, werden dann bis maximal ein Jahr über die neue Verfassung Chiles verhandeln. Dann wird Mitte nächsten Jahres über die revidierte Version per Volksentscheid abgestimmt.
Die Mehrheit der Chilenen hat nach den schweren Protesten 2019 diese Verfassungsänderung gefordert. Viele von ihnen sind enttäuscht: Denn trotz des hohen Wachstums, der verbesserten Sozialindikatoren und der konsolidierten Demokratie seit nun 30 Jahren stört sich die Mehrheit der Chilenen an den fehlenden Aufstiegschancen und der schlechten Grundversorgung durch den Staat. Bei Bildung, Gesundheit und vor allem im Pensionssystem versagt der Staat gegenüber denen, die sich keine private Versorgung leisten können. Es ist abzusehen, dass die neue Verfassung mehr Staat und weniger Marktwirtschaft enthalten wird. Die Mehrheit der Bevölkerung wünscht ein sozialdemokratisches System.
Es geht ihr aber auch um die Modernisierung der Gesellschaft. Chile hat sich in den letzten zehn Jahren stark verändert, was man an den breit diskutierten Themen Scheidung, Abtreibung und Homo-Ehe sieht. Das Vertrauen in Politik, Parteien und Unternehmerschaft, aber auch in Polizei und katholische Kirche hat einen Tiefpunkt erreicht. Dazu beigetragen haben zahlreiche Skandale, die auch das Selbstverständnis einer konservativen, redlichen Elite schwer erschüttert haben.
Verkürzt lässt sich sagen: Während die chilenische Gesellschaft in den letzten zehn Jahren immer liberaler wurde, blieb die Elite verschlossen und konservativ.
Die neue Verfassung ist nun der Versuch, wieder das Vertrauen in die Institutionen und die Demokratie aufzubauen – nicht zuletzt, um das erfolgreiche Wirtschaftsmodell langfristig zu retten. Denn wirtschaftlich spielt Chile in Lateinamerika schon länger in einer höheren Liga.
Wenn es nun gelingt, das Land auch gesellschaftlich per Verfassung zu modernisieren, dann könnte Chile auch politisch ein Vorbild für Lateinamerikas gespaltene Gesellschaften werden.
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