Robustes Wachstum trotz Skepsis der Finanzmärkte

Die brasilianische Wirtschaft steht erneut deutlich besser da als erwartet. Dennoch bleiben Finanzinvestoren angesichts der steigenden Staatsausgaben vorsichtig.

von Alexander Busch, Lateinamerika-Korrespondent für Handelsblatt und NZZ

 

Zum dritten Mal in Folge überrascht die brasilianische Wirtschaft mit ihrer Dynamik

Die Wachstumsprognosen für 2024 wurden nach einem starken zweiten Quartal deutlich angehoben. Die größte Volkswirtschaft Lateinamerikas wird in diesem Jahr um rund drei Prozent wachsen. Damit liegt sie im Trend der letzten Jahre: Seit 2021 steigt das Bruttoinlandsprodukt jährlich um rund drei Prozent.

Dafür sorgen vor allem der Binnenkonsum, aber erstmals auch wieder steigende Investitionen: Die staatliche und private Nachfrage legte bis zur Jahresmitte um knapp fünf Prozent zu – und damit stärker als die Gesamtwirtschaft. Steigende Importe, die im zweiten Quartal um fast 15 Prozent über dem Vorjahreswert lagen, schlossen die Lücke zwischen Angebot und Nachfrage auf dem Binnenmarkt.

Die Arbeitslosigkeit liegt bei knapp sieben Prozent. Das ist für brasilianische Verhältnisse nahezu Vollbeschäftigung. Es ist die niedrigste Arbeitslosenquote seit zehn Jahren. Auch die Auslastung der Industrie ist so hoch wie seit einem Jahrzehnt nicht mehr.

Inzwischen ist der Inflationsdruck durch das höhere Wachstum und den weitgehend leergefegten Arbeitsmarkt gestiegen. Auch der schwache Real trägt zur steigenden Teuerung bei. Die Inflationsrate der letzten zwölf Monate liegt bei 4,5 Prozent. Da sich die Wirtschaft damit vom Inflationsziel der Zentralbank (3 Prozent) entfernt, dürften die Währungshüter die Zinsen noch in diesem Jahr anheben oder auf dem aktuell hohen Niveau belassen. Derzeit liegt der Leitzins Selic bei 10,5 Prozent.

Auch die Außenhandelsbilanz Brasiliens ist solide: Bis August wurde ein deutlicher Exportüberschuss erzielt, obwohl die Importe erstmals wieder stärker wuchsen als die Exporte. Die Devisenbilanz ist mit 370 Mrd. US-Dollar gut gefüllt.

Nach einem Bericht der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) ist Brasilien das zweitwichtigste Ziel für ausländische Direktinvestitionen weltweit. Im vergangenen Jahr flossen 64 Mrd. US-Dollar ins Land. Nur in den USA investierten ausländische Konzerne deutlich mehr. Die brasilianische Zentralbank rechnet auch in diesem Jahr mit einem ähnlich hohen Zufluss ausländischer Investitionen. Damit steht Brasiliens Wirtschaft im weltweiten Vergleich stabil da.

 

Finanzinvestoren sind gegenüber Brasilien derzeit skeptisch

In diesem Jahr wurde so viel Kapital aus dem Aktien- und Anleihemarkt abgezogen wie seit 40 Jahren nicht mehr. Der brasilianische Aktienindex bildet in diesem Jahr neben Mexiko nicht nur das Schlusslicht in Lateinamerikaauch im weltweiten Vergleich hat sich kaum ein Börsenplatz so schlecht entwickelt wie der in São Paulo. Der Dollar wurde gegenüber dem Real in diesem Jahr um rund 15 Prozent aufgewertet. Investoren verlangen höhere Zinsen (Spreads) für brasilianische Anleihen, weil das Risiko aus Sicht der Finanzmärkte steigt.

Die Diskrepanz zwischen der positiven wirtschaftlichen Realität und der Zurückhaltung der Investoren hat vor allem einen Grund: Investoren und viele Unternehmer sorgen sich um die mangelnde Haushaltsdisziplin der Regierung, die automatisch zu hohen Zinsen führt. Zudem verkürzt sich der Planungshorizont für unternehmerische Entscheidungen, da unklar ist, ob die Regierung gegen Ende der Legislaturperiode auf möglicherweise sinkende Wachstumszahlen mit einem expansiven Ausgabenprogramm reagieren wird.

Bereits jetzt sind die Staatsausgaben deutlich gestiegen. So liegt das Primärdefizit des Staates (also ohne Berücksichtigung der Zinszahlungen) derzeit bei rund 2,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Der Primärhaushalt ist der entscheidende Indikator dafür, ob ein Staat seine Verschuldung mittelfristig ausweiten oder abbauen wird.

Unter der Regierung Lula stieg die Schuldenquote von rund 70 auf aktuell 76 Prozent des BIP. Das unabhängige Fiscal Institute (IFI) schätzt, dass die Verschuldung Brasiliens bis 2034 auf über 100 Prozent steigen wird. Das ist für ein Industrieland nicht besorgniserregend, für ein Schwellenland wie Brasilien aber zu viel. Denn der Staat muss immer mehr Schulden zurückzahlen, ohne in Infrastruktur, Gesundheit oder Bildung investieren zu können.

Doch es gibt noch andere Gründe, warum Finanzinvestoren und Unternehmer skeptisch auf das Entwicklungspotenzial der Wirtschaft blicken. Sie stören sich an der staatlich dominierten Wirtschaftspolitik der Regierung. Sie befürchten, dass Brasilien dadurch im unambitionierten Mittelmaß verharrt und auf dem Weg weiter zurückfällt. Tatsächlich steigt die Produktivität der Wirtschaft kaum noch. Die durchschnittliche Arbeitsproduktivität der Brasilianer stagniert auf dem Niveau der 1980er Jahre.

Es ist unklar, woher in Brasilien die notwendigen Produktivitätszuwächse kommen sollen – sieht man einmal von der modernen Landwirtschaft und dem Bergbau ab. Denn das Bevölkerungswachstum Brasiliens ist rückläufig. Vom demografischen Bonus – wenn die wirtschaftlich aktive Bevölkerung schneller wächst als die Zahl der Inaktiven (Rentner und Kinder) – wird Brasilien nicht mehr profitieren.

Auch die Investitionsquote ist mit 16 Prozent gemessen am Bruttoinlandsprodukt sehr niedrig. Bei den derzeit weltweit wichtigen Wachstumsthemen wie Künstliche Intelligenz, Data Science, Halbleitertechnologie oder in der Informatik spielen brasilianische Unternehmen international keine bedeutende Rolle.

Vom weltweit stattfindenden Nearshoring hat Brasilien bisher – anders als erhofft – nur wenig profitiert. Noch vor kurzem war die Wirtschaft zuversichtlich, dass Brasilien von der globalen Verlagerung wirtschaftlicher Wertschöpfungsketten weg von China hin zu den westlichen Ländern profitieren würde. Doch anders als etwa in Mexiko haben sich in Brasilien kaum neue Industrien angesiedelt, um vom Zugang zum US-Markt zu profitieren.

Lediglich chinesische Automobilhersteller und Zulieferer haben eine Investitionsoffensive gestartet. Mehrere Unternehmen bauen derzeit Fabriken und setzen auf den lokalen Markt und Brasilien als Standort für Exporte nach Südamerika. Dies betrifft insbesondere Elektroautos. Vor allem europäische Automobilhersteller werden dadurch in einem ihrer traditionell wichtigen Märkte unter Druck geraten.

 

Dennoch hat Brasilien im internationalen Vergleich wichtige strategische Vorteile

So wird Brasilien in Zukunft seine Position als globaler Lieferant von Nahrungsmitteln weiter ausbauen. Bei Soja, Fleisch, Zucker, Mais und Kaffee gehört Brasilien zu den weltweit führenden Anbietern. Zulieferer für die Agrar- und Ernährungswirtschaft haben dort einen großen Markt.

Auch bei Industrierohstoffen hat Brasilien großes Potenzial: Neben Eisenerz liefert das Land viele wichtige Bergbauprodukte, von Niob bis Lithium. Und als Erdölproduzent wird die Bedeutung Brasiliens in der Welt zunehmen. Heute ist Brasilien das achtgrößte Förderland der Welt. Weitere Vorkommen vor der Küste sollen erschlossen werden.

Gleichzeitig bezieht Brasilien schon heute einen erheblichen Teil seines Stroms aus nachhaltigen Quellen. Das macht das Land zu einem attraktiven Standort für Industrien, die mit grüner Energie produzieren wollen.

Ein weiterer Standortvorteil ist die geopolitisch neutrale Positionierung des Landes durch die Regierung Lula: Das Land hält Äquidistanz zu den geopolitischen Machtpolen China und USA. Mit beiden Weltmächten wird gehandelt und verhandelt.

 

Die Distanz zu Europa ist auch gewachsen

Die neue Neutralität des Landes wird vor allem in Europa kritisiert. Aber auch Europa hat für Brasilien an Bedeutung verloren. Der Handel schrumpft. Europäische Unternehmen investieren nur zögerlich in Brasilien. In der öffentlichen Wahrnehmung in Brasilien rückt Europa immer weiter von Lateinamerika ab und ist zudem mit einer Vielzahl eigener ungelöster Probleme vollauf beschäftigt.

Die gerade wieder aufgenommenen EU-Mercosur-Verhandlungen über eine gemeinsame Wirtschaftszone könnten daher eine neue Dynamik in die Beziehungen zwischen Europa und Südamerika bringen. Sie könnten einen solchen Impuls gut gebrauchen.

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© Pixabay/ikedaleo

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