Archiviert: Südamerika erlebt unruhige Zeiten

Der Kontinent ist in Aufruhr. Daran wird sich so bald nichts ändern. Wenn Brasilien oder die Weltwirtschaft sich schneller erholen als erwartet, könnte das die Region stabilisieren.

Die politischen Wechsel in Südamerika finden derzeit so rasant statt, dass man kaum mitkommt. Die überraschenden Wendungen auf dem Kontinent leiteten die Argentinier im August ein. Sie machten klar, dass sie den regierenden wirtschaftsliberalen Präsidenten Mauricio Macri abwählen würden – was sie im Oktober tatsächlich taten. Nun kommt in der zweitgrößten Ökonomie Südamerikas – neben Kolumbien – mit Alberto Fernández wieder ein Peronist an die Macht. Zusammen mit Ex-Präsidentin Cristina Kirchner als Vize ist er angetreten. Für Unternehmer und Investoren ist das kein gutes Omen. Sie haben mit der Linkspopulistin schlechte Erfahrungen gemacht.

Auch in Ecuador und Bolivien ist es zu Aufständen gekommen. In Bolivien musste Präsident Evo Morales das Land verlassen, weil auch Militärs und Polizei ihn nach den Wahlfälschungen nicht mehr unterstützen wollten. Die größte Überraschung stellt jedoch Chile dar: Ausgerechnet im erfolgreichsten und stabilsten Land der Region ist es zu gewalttägigen Massenprotesten gekommen. Inzwischen wollen die Chilenen über eine neue Verfassung verhandeln. Doch die Proteste gehen weiter.

Es sieht derzeit nicht danach aus, als würden die Unruhen in Südamerika so bald aufhören – sie könnten zudem auch auf andere Länder übergreifen. In Peru etwa ist die Lage unsicher, im Januar soll es Neuwahlen geben. Doch die wenigsten Peruaner trauen ihren Politikern noch. In Kolumbien nehmen die Spannungen zu wegen der Flüchtlinge aus Venezuela und der wieder aktiven Guerilla. Auch in Argentinien könnte es in wenigen Monaten zu Protesten kommen, wenn die Wähler merken, dass die neue Regierung kaum Handlungsspielraum hat und vor allem sparen muss.

Die Auslöser für die Spannungen in den Ländern sind unterschiedlich, aber die Gründe für die Unzufriedenheit und Wut sind von Panama bis Patagonien ziemlich ähnlich. Es ist das schwache Wachstum seit fast einer Dekade, welches die Hoffnungen der Armen auf den Aufstieg zunichte gemacht hat. Auch die traditionellen Mittelschichten haben Angst vor dem Abstieg. Sie müssen die schwachen staatlichen Dienstleistungen zunehmend privat bezahlen. Die großen Arm-Reich-Gegensätze und Einkommensunterschiede empören viele. Ebenso, dass die Kampagnen gegen die Korruption zunehmend ausgebremst werden, obwohl sie in einigen Ländern noch nicht mal richtig begonnen haben. Das Risiko wächst, dass einerseits politischen Außenseiter den Frust der Menschen nutzen und mit Hilfe der sozialen Medien am politischen Establishment vorbei aufsteigen werden. Andererseits könnten die Regierungen auch autoritär, also mit Hilfe der Militärs, versuchen, wieder die Ordnung herzustellen. Beides würde die Spannungen noch zusätzlich anheizen.

Dennoch sollte man die Entwicklungen nicht verallgemeinern. In Chile existiert die politische Basis für eine Einigung: Es gibt auf beiden Seiten des politischen Spektrums den Willen, einen Kompromiss zu finden. Es ist schwer vorstellbar, dass die große Mehrheit der Chilenen alles auf Spiel setzen will, was sie in den letzten drei Dekaden aufgebaut hat. Auch stehen die wichtigen Pazifikstaaten wirtschaftlich solide da: Die Inflation ist in Chile, Peru und Kolumbien niedrig, die Haushaltsbilanzen sind ausgeglichen. Die Staaten haben also Spielraum, um Sozialausgaben oder Verteilungsmaßnahmen einzuleiten. Die Ökonomien könnten sich schnell wieder erholen, wenn die Proteste abklingen.

Auch Brasilien könnte mit einer wirtschaftlichen Erholung große Teile Südamerikas stabilisieren. Die Mercosur-Staaten Argentinien, Uruguay, Paraguay, aber auch Bolivien und selbst Chile würden von einem starkem Brasilien Wachstumsimpulse bekommen. Brasilien bewegt sich unter der Regierung von Präsident Jair Bolsonaro auf einem liberalen Reformkurs, etwa bei der Umsetzung der Rentenreform. Weitere Reformpakete mit strengen Ausgabenregeln für die öffentlichen Haushalte will die Regierung jetzt aufgleisen. Ob sie die umsetzen kann, ist offen. Die Konjunktur beginnt sich zu erholen. Ob das ausreicht, um bald schon als Lokomotive ganz Südamerika mitzuziehen, ist derzeit unwahrscheinlich. Dennoch vereinen sich derzeit auf Brasilien mit seinen Reformen die größten Wachstumshoffnungen in einer Region, die überraschend volatil geworden ist.

Stabilisierend könnte auch eine wieder wachsende Nachfrage in der Weltwirtschaft nach Rohstoffen wirken – sowohl agrarische als auch industrielle. Südamerikas Ökonomien und die Staatshaushalte sind überproportional abhängig von Exporten von Primärgütern. Wachsende Steuereinnahmen könnten direkt zum Abbau von sozialen Spannungen eingesetzt werden.

Angesichts des Aufruhrs jetzt sollte man nicht vergessen: Ruhe und Stabilität waren langfristig gesehen in Südamerika eher die Ausnahme, abrupte Wechsel in der Politik und der Konjunktur dagegen meist die Regel. Daran sind die meisten Unternehmen gewohnt, die schon länger in Südamerika tätig sind. Auch in den Boomjahren war der Geschäftsalltag in Südamerika keineswegs einfach.

Planet Erde Lateinamerika
© Pixabay/Sergio HT

Alexander Busch

Korrespondent Handelsblatt, Wirtschaftswoche und NZZ in Lateinamerika

Sunday Brief N°11

Dieser Sunday Brief ist auch als PDF mit der Kolumne, Stimme und dem Leitartikel verfügbar.

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