Archiviert: Werden die lateinamerikanischen Länder abgehängt?

Lateinamerika droht, bei der Neuordnung der globalen Wertschöpfungsketten übergangen zu werden – und sich gleichzeitig weiter von Europa zu entfernen

von Alexander Busch, Lateinamerika-Korrespondent für Handelsblatt und NZZ

 

In den letzten Monaten ist deutlich geworden, dass die weltweiten Lieferketten neu aufgestellt werden. Das hängt mit der Pandemie zusammen, wonach Unternehmen wie Staaten künftig autonomer werden und sich nicht mehr dem Versorgungsrisiko aussetzen wollen, wenn ein Glied in der Lieferkette ausfällt. Zudem führt der verschärfte Konflikt zwischen den USA und China dazu, dass sich weltweit parallele Liefer- und Technologieketten bilden, um die Abhängigkeit der USA von China als dem industriellen Zulieferer der Welt zu verringern.

Die erste Frage ist, inwieweit Lateinamerika von diesen Veränderungen profitieren kann. Um die Antwort vorweg zu nehmen: Vermutlich wenig.

Die Economist Intelligence Unit hat dazu gerade eine kurze Studie („Will Latin America take advantage of supply chain shifts?“) veröffentlicht. Das Fazit: Lateinamerika wird vermutlich von den Investoren beim „nearshoring“ eher links liegen gelassen. Dazu ist die Infrastruktur in der Region zu rückständig, die Unternehmen zu wenig auf hochwertige Produktion („Industrie 4.0“) vorbereitet, die Arbeitskräfte ungenügend ausgebildet und die Rahmenbedingungen für ausländische wie nationale Unternehmen wenig förderlich für neue Ansiedelungen.

Unterm Strich stellt EIU fest, seien Chile, Costa Rica, Kolumbien, Mexiko und Brasilien noch am besten darauf vorbereitet, von den Trends der globalen Arbeitsteilung zu profitieren. Die einzige klar positive Ausnahme ist Mexiko und möglicherweise Teile Zentralamerikas, die von der Einbindung in die US-Lieferketten profitieren können, indem sie einen Teil der asiatischen Importe in die USA ersetzen.

Was heißt das für die europäischen Unternehmen und ihre Interessen in Lateinamerika?

Auch da sieht es nicht besser aus: Denn einerseits haben sich die Aussichten für den Handel und Direktinvestitionen europäischer Unternehmen mit der Pandemie und der schweren Wirtschaftskrise in der Region eher verschlechtert: Das Pro-Kopf-Einkommen ist gesunken, die Währungen geschwächt, der Staat dürfte als Investor in der Infrastruktur wegen der hohen Ausgaben während der Pandemie für Jahre ausfallen.

Dazu kommen die verschlechterten Rahmenbedingungen für die Integration auch auf politischer Ebene. Bundeskanzlerin Angela Merkel erklärte jetzt, dass sie zweifele, ob das EU-Handelsabkommen mit dem südamerikanischen Staatenbund Mercosur noch umgesetzt werden könne. Grund sei die Umwelt- und Amazonaspolitik Brasiliens.

Deutschland galt bis vor wenigen Tagen als einer der wichtigsten Unterstützer für das Abkommen in der EU. Merkel hat zwar nicht die Reißleine gezogen, aber den Druck erhöht. Möglicherweise, um das Abkommen noch zu retten.

Erstaunlich ist die fehlende Resonanz in Südamerika. Keine Regierung der Mercosur-Mitgliedsländer äußerte sich zur Kritik der Kanzlerin. Auch in Europa fielen die Reaktionen der Unterstützer des Abkommens eher protokollarisch aus. Der Schluss kann eigentlich nur einer sein: Auch in Südamerika ist derzeit niemand mehr wirklich von dem Abkommen überzeugt.

Das gilt für das Thema Integration allgemein: Auch innerhalb der Pazifikallianz (Chile, Peru, Kolumbien, Mexiko und bald Ecuador) ist nun nach knapp einer Dekade die anfängliche Euphorie einer Ernüchterung gewichen. Derzeit arbeitet keine Regierung innerhalb der Allianz für mehr Integration untereinander.

Es sieht also alles danach aus, als hätten sich nicht nur Europa und Lateinamerika in den letzten Wochen voneinander entfernt. Auch innerhalb des Kontinents werden sich die Staaten wieder fremder.

COVID-19 in Lateinamerika

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