Die Weichen für die Zukunft der Demokratien in Südamerika werden gerade gestellt

In Kolumbien findet mit dem Präsidentenwechsel gerade ein historischer Einschnitt statt. In Chile wird in wenigen Wochen über den Verfassungsentwurf abgestimmt. Im Oktober wählt Brasilien. Das alles sind entscheidende Ereignisse für die Zukunft der Demokratien in Südamerika.

von Alexander Busch, Lateinamerika-Korrespondent für Handelsblatt und NZZ

Südamerika steckt mitten in einem politischen Epochenwandel. Das gilt derzeit besonders für Brasilien, Chile und Kolumbien. Dort leben mit 284 Millionen Menschen rund zwei Drittel der Südamerikaner.

In Kolumbien hat mit dem Amtsantritt von Gustavo Petro letzte Woche eine neue politische Ära begonnen. Es ist der erste linke Präsident Kolumbiens nach vielen Jahren konservativer Regierungen. Der erfahrene Politiker wird beweisen müssen, dass er das gespaltene, gewalttätige Land befrieden kann.

Kolumbien ist einer der Staaten in der Region mit riesigen Problemen – von der Einkommenskonzentration über die Drogenmafias, von Korruption bis zur fehlenden Sicherheit. Es ist aber auch eines der Länder Südamerikas mit einem gewaltigen wirtschaftlichen Potenzial, sollte es Petro gelingen, die Spannungen zu reduzieren und das Land zu befrieden.

In Chile stimmt die Bevölkerung am 4. September über den neuen Verfassungsentwurf ab. Die sozialen Reformen in der neuen Charta entsprechen den Forderungen der Mehrheit der Chilenen. Die Wirtschaft sorgt der zunehmende staatliche Einfluss. Lehnen die Chilenen den Entwurf ab, könnte es erneut zu gewalttätigen Protesten kommen.

Auch wenn die Chilenen den Entwurf billigen, wird entscheidend sein, ob es der Regierung von Präsident Gabriel Boric gelingt, die Frustrationen der konservativen wie linken Gegner bei der Umsetzung der neuen Verfassung abzubauen.

Wenn er damit erfolgreich ist, dann dürfte das Experiment mit einer neuen Verfassung ein Vorbild für viele Staaten in Lateinamerika sein, in denen die Menschen mehr Rechte und Einfluss fordern. Scheitert die friedliche Verfassungsreform in Chile, dann ist das ein schlechtes Omen für die Demokratie in Südamerika.

Aber auch für Chile als Wirtschaftsstandort steht viel auf dem Spiel: Das Andenland ist eines der Länder in der Region, das über drei Dekaden einen beispiellosen Wirtschaftsboom erlebt hat. Wenn die Regierung den Verfassungsprozess mit einer hohen Akzeptanz in der Bevölkerung weiterführen kann, dann wird Chile weiter von seiner Spitzenstellung als Rohstofflieferant der Welt profitieren.

In Brasilien schließlich wählen die Brasilianer im Oktober bei allgemeinen Wahlen unter anderem auch den nächsten Präsidenten: Der Rechtspopulist Jair Bolsonaro möchte weitere vier Jahr im Amt bleiben und steht bei den Wahlpräferenzen auf dem zweiten Platz. Derzeit führt der linke Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva in den Umfragen.

Präsident Bolsonaro hält das elektronische Wahlsystem für unzuverlässig und attackiert den Obersten Gerichtshof. Ex-Präsident Lula wiederum saß wegen Korruption im Gefängnis. Das Urteil wurde im Nachhinein aus formalen Gründen für ungültig erklärt. Auch in Brasilien ist der Druck auf die Demokratie und den Rechtsstaat erstmals seit dem Ende der Diktatur 1985 stark gestiegen.

Der nächsten Regierung muss es gelingen, wieder das Vertrauen der Wirtschaft in die mit Abstand wichtigste Ökonomie des Kontinents herzustellen. Auch in Brasilien könnte eine stabile Politik kombiniert mit Reformen in kurzer Zeit einen Wachstumsboom auslösen.

Kurz: 2022 wird zum Schlüsseljahr für die politische und wirtschaftliche Zukunft Südamerikas.

Bogota
© Pixabay/German Rojas

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